Für eine Debatte über das GRÜNE Staatsverständnis statt abstrakter Debatten über die Verwaltung des Erbes der FDP und des Liberalismus
Ende 2013 ist das Papier „Die Farbe der Freiheit ist Grün“ veröffentlicht worden. Es war und ist der Versuch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als wahre Partei der Freiheit auszurufen. Mittlerweile ist die Zahl der Debattenbeiträge nahezu unüberschaubar geworden. In der Maiausgabe des Cicero erscheint nun ein Artikel von Robert Habeck und Franziska Brantner, der nach den Vorabinformationen zumindest nach einer weiteren Bereicherung der Debatte klingt.
Die inhaltliche Breite der Beiträge reichte dabei von der totalen Verklärung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als die Ur-Partei der Freiheit bis hin zur nahezu intendierten Totalrevision GRÜNER Programmatik unter dem Deckmantel der Liberalisierung und der Negation der politischen Steuerung durch den Staat. Dieser Pluralismus der Beiträge zeigt aber auch: So richtig klar, was Ziel und Mehrwert der Freiheitsdebatte für die programmatische Fortentwicklung ist, war und ist es bisher niemanden. Dies mischt sich mit dem eher zwanghaften Versuch, die aktuelle Politik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwar inhaltlich nicht zu ändern, sondern vielmehr diese lediglich mit einem liberalen Etikett zu versehen.
Das Problem besteht dabei schon in den Ansätzen der Debatte. Nur wenige Beiträge haben sich die Frage gestellt, ob die Debatte über Freiheit und Freiheitsbegriffe wirklich jene ist, die es zur Problembewältigung nach der misslungenen Bundestagswahl tatsächlich braucht. Symptomatisch dafür ist der Konflikt, ob man als GRÜNE nun eine liberale oder eine libertäre Partei sein will oder bereits ist. Diese Diskussion um begriffsdefinitorische Unterschiede geht am Kern der Sache vorbei. Viel entscheidender als ein Diskurs um die GRÜNE Abstraktion der Freiheit ist für das Fortkommen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Debatte über das Staatsverständnis grüner Politik. Dieser Ansatz soll im Folgenden vertieft werden und muss für die Diskussionen der kommenden Monate eine zentrale Komponente sein.
Brauchen wir eine neue Freiheitsdebatte?
Grundsätzlich ist der Ansatz des Debattenaufschlags zur Frage der Freiheitsaspekte in der Politik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr lobenswert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befanden sich zur Bundestagswahl im Bezug auf das Themenfeld der Freiheit in einem Zangengriff. Außerhalb der Themenfelder Bürgerrechte/ Datenschutz und Demokratie wirkte der Angriff der anderen Parteien und die Stigmatisierung als Verbotspartei in pejorativer Weise auf die grundsätzlichen emotionalen Auffassungen eines erheblichen Teils unserer Wählerinnen und Wähler, die sich somit von der von ihnen präferierten Partei verraten fühlten. Der Themenkomplex, in dem wir tatsächlich als freiheitssichernde Partei wahrgenommen werden, kam im Bundestagswahlkampf selbst zu kurz und wurde einem nicht unerheblichen Konkurrenzdruck durch die Piratenpartei ausgesetzt. Deshalb brauchte es natürlich Diskussionen, wie zum einen die bürgerrechtlichen Ziele und Programmatiken von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wieder gestärkt werden und wie zum anderen außerhalb dieses Themenkomplexes deutlich gemacht wird, dass die GRÜNEN keine Verbotspartei sind und diesbezüglich auch Korrekturen brauchen.
Eine Debatte über das Freiheitsverständnis von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist daher richtig und notwendig und in allen Fällen zumindest unschädlich. Wie bereits beschrieben, werden wir von vielen Menschen in politischen Teilbereichen als Gegner der freien Selbstentfaltung wahrgenommen. Eine Debatte über die Grundlagen dieser Problematik sind wir den Wählerinnen und Wählern in Folge der Bundestagswahl schlicht schuldig.
Dennoch gehen die aktuellen Debatten und Diskussionen über den neuen Liberalismus bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mitunter am Kern der Sache vorbei. Erstens, eine Partei, die glaubt eins zu eins eine der großen politischen Theorien und Gedankenkonstrukte für sich reklamieren zu können oder gar diese verkörpern will, ist zum Scheitern an ihren eigenen Ansprüchen verurteilt. Der Begriff der Freiheit gehört neben „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ zu den großen verheißungsvollen und geichzeitig nur schwer zu füllenden Erzählungen. Die aktuellen Diskussionen, ob die GRÜNEN nun eine liberale Partei oder eine libertäre Partei sind, sind deshalb in erster Linie gut gemeinte Anknüpfungsversuche an die Theorie des Liberalismus, welche aber in der jeweiligen tatsächlichen Untersetzung durch die aktuelle Grundausrichtung von keiner Partei erfüllt werden kann. Zweitens ist diese Begriffsdebatte für die Bewältigung der Fehler der Bundestagswahl nur bedingt geeignet, da der Abstraktionsgrad der Debatte ein Herunterbrechen auf die einzelnen Lebenssachverhalte nur bedingt zulässt.
Drittens ist der Begriff der Freiheit politisch sehr dankbar für all jene, die ihn in Anschlag bringen wollen: Er ist doppelt instrumentalisierbar und lässt sich dabei meistens für beide Seiten einer Medaille einspannen. Er ist somit eine inhaltlich leere Hülle, die sich je nach Gedankenkonstrukt und individueller Weltanschauung füllen lässt. Was Freiheit ist und wann Freiheit eingeschränkt wird, ist stets ein höchst subjektives Empfinden. Mit dem Veggie-Day in Kantinen wird beispielsweise die Freiheit eingeschränkt, sich für ein Fleischgericht zu entscheiden. Umgekehrt wird aber ohne Veggie-Day die Freiheit der VegetarierInnen eingeschränkt sich aus ihrer Sicht adäquat zu ernähren. In den seltensten Fällen gibt es Freiheit ohne die Freiheit anderer einzuschränken. Dies gehört unweigerlich zur inhärenten Interpretationsfähigkeit des Freiheitsbegriffs. Hüten sollten sich GRÜNE aber davor, Verbote auf Krampf als Freiheitssicherung auszulegen. Ein Verbot bleibt für jene, die es trifft, ein Verbot, egal wie man es labelt oder nennt. Eine abstrakte Freiheitsdebatte ist dazu geeignet, die Ansätze des Nachdenkens über GRÜNE Programmatik zum Kampf um die möglichst beste werbetechnische Umsetzung verkommen zu lassen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN braucht deshalb in erster Linie keine neue abstrakte Debatte über Freiheit und Freiheitsbegriffe oder über Liberalismus und Libertarismus. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN braucht eine Debatte über das eigene Staatsverständnis, welches der Politik zu Grunde gelegt wird. Hier liegen die Wurzeln der Verbotszuschreibung. Eine solche Debatte dürfte in seinen Wesenszügen um Weiten zielführender sein, als so manche aktuelle Diskussion darüber, ob man mit einer liberalen Komponente GRÜNER Politik die siechende FDP beerben will.
Wie kann ein freiheitliche grünes Staatsverständnis aussehen?
Im Folgenden wird versucht, kurz anzureißen, welche Grundlagen ein liberales Staatsverständnis haben kann, welches ermöglichen könnte, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklich zu einer Partei der Freiheit werden zu lassen. Dafür braucht es in erster Linie einen dogmatischen Grundsatz, dass das Private nicht im hohen Maße politisiert werden darf. Zweitens bedarf es eines neuen Verständnisses für Kohärenz beim Handeln des Staates als Gesetzgeber. Drittens bedarf es einer Renaissance eines Staatsverständnisses, das den Staat grundsätzlich als gewissen Antagonisten der Bürgerinnen und Bürger ansieht. Viertens braucht es eine grundsätzlichere Definition des GRÜNEN Verständnisses des Verhältnisses von Staat und Bürgern.
Der dogmatische Grundsatz – Das Private darf nicht politisch sein
Ein freiheitlicher grüner Ansatz muss wieder stärker die Entpolitisierung des Privaten befördern und der Versuchung widerstehen, das Private durchregulieren zu wollen. Der Versuch, das Private zu politisieren und einer immer stärkeren Regulierung zu unterwerfen, widerspricht bereits im Kern jeglichem Liberalismus. Der Ruf nach dem guten Leben und die Forderung nach gesundheitlicher und sozialer Generalprävention sind dabei typische Beispiele des teilweisen Unterwerfens des Privaten unter einen Steuerungsbereich des Politischen.
Abstand halten sollten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNE beispielsweise von der mantraartigen Proklamation des „guten Lebens“. Denn was ist gutes Leben? Ist es im streng utilitaristischen Sinne jene Lebensweise, die der Menschheit als Ganzes am besten nutzt oder jene, die dem eigenen Sein am besten genügt. Was ein gutes Leben ist, darüber entscheidet in erster Linie jeder Mensch für sich. Die Frage der höchstindividuellen Lebensgestaltung darf im liberalen Sinne keine sein, die sich dem Versuch einer politischen Durchregelung unterwirft. Wer zurecht fordert, dass es den Staat nichts angeht, mit wem man das Bett teilt, der sollte schon alleine aus Gründen der Kohärenz auch fordern, dass es niemanden etwas angeht, was man isst. Hier sollte man von der Dogmatik des klassischen Bürgerrechtsschutzes lernen und auch politisch einen Bereich der höchstpersönlichen Lebensgestaltung antizipieren, den es zu respektieren gilt.
Der Schutz des Privaten darf nicht nur der Schutz vor unmittelbaren Eingriffen des Staates sein, also der klassische Bürgerrechtsschutz, sondern muss den Menschen ein hohes Maß an Fähigkeit zur wahrgenommenen Eigengestaltung seines Privatlebens lassen. Hier geht es in erster Linie um das Gefühl der Menschen, ob sie in ihrer privaten Verwirklichung eingeschränkt sind und weniger um die Empirie der tatsächlichen Einschränkung. Vielleicht lohnt es sich dennoch einen Blick auf den Umgang mit repressiven Freiheitseinschränkungen im Bürgerrechtsbereich zu werfen. Hier hatte sich eine Zeit lang das Konstrukt der gefühlten Gesamtüberwachung durchgesetzt. Daran anknüpfend sollten sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überlegen, ob ein Konstrukt der maximalen Gesamteingriffssumme in den Bereich der unmittelbaren privaten Lebensführung zumindest ein theoretischer Anknüpfungspunkt zum Umgang mit Freiheitseinschränkungen ist.
Wir müssen wieder mehr dem Versuch widerstehen, individuelles Verhalten von Seiten des Staates zu regeln, wenn dies nicht aus gut nachvollziehbaren Grünen essenziell notwendig ist. Wir müssen mehr in die Menschen vertrauen. Damit ist nicht das blinde Vertrauen in die Selbstregulierung des Marktes oder „rational-choice-Verhalten“ der Menschen gemeint, sondern ein Vertrauen in das Bewusstsein des Menschen – in den Ansatz, dass die Menschen mehr oder weniger in der Lage sind, die Folgen ihres Handels im unmittelbaren Bereich der persönlichen Lebensführung auf sich und Dritte zu antizipieren. Auf diesen Mechanismus sollte sich nur beim Schutz elementarer Rechtsgüter nicht verlassen werden – hier muss dann sanktionierend eingegriffen werden.
Grüne Freiheitspolitik muss die Sphären zwischen Privatem und Politischen deutlicher, als dies bisher der Fall war, wieder trennen, sonst bleibt das Image der Besserwisser und Verbotspartei haften.
Der rechtstheoretische Grundsatz – Die Verlässlichkeit des Staates
Die Verlässlichkeit staatlichen Handels und die daraus mündende Erwartungssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger ist eine der zentralsten Komponenten der modernen Rechtstaatlichkeit. Sie hat ihre gesetzgeberische Manifestation beispielsweise im Rückwirkungsverbot gefunden. Sie kann sich aber fernab der konkreten gesetzlichen Grundlagen auch als Leitlinie politischen Handels begreifen lassen. Es geht hier um gesetzgeberische Kohärenz. Dies ist vielleicht das schwierigste Spannungsfeld, dem sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbstkritisch stellen muss. Haben die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf, dass der Staat nicht etwa ein Handeln sanktioniert, während er ein ähnliches Handeln in einem anderen Bereich nicht zu einer Sanktionierung führt? Aus liberaler Staatssicht sollten die Bürgerinnen und Bürger diesen Anspruch sehr wohl haben. Der Staat muss etwas sein, was Erwartungssicherheit erzeugt. Dies setzt aber große deduzierbare Leitplanken im Politikverständnis voraus, die jeweils am Einzelfall geprüft und umgesetzt werden können. Zwei Beispiele, die das benannte Spannungsfeld verdeutlichen: Unter nicht wenigen GRÜNEN gibt es eine systematische Grundkritik am § 129 bzw. 129a des Strafgesetzbuches (Bildung einer kriminellen Vereinigung bzw. Bildung einer terroristischen Vereinigung). Die Kritik an dem mit dem Strafvorwurf verbundenen Instrumentarien sind dabei nahezu vollumfänglich berechtigt. Logisch nicht nachvollziehbar ist es dann aber, warum von GRÜNER Seite im Bezug auf neonazistische Straftaten diese Straftatbestände gerne bemüht werden. Hier muss man sich für einen Weg entscheiden. Noch deutlicher wird die Problematik bei der GRÜNEN Kernforderung nach der Liberalisierung des Betäubungsmittelrechtes. Zu Recht wird davon ausgegangen, dass es Sache des Einzelnen ist, mit Drogen und seiner Gesundheit umzugehen. Dieser Auffassung widersprechen dann aber Forderungen von GRÜNER Seite nach einem Anti-Doping-Gesetz.
Durch eine Kohärenz beim politischen Handeln kann das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und den Staat als solches wachsen. Sie senkt für viele Bürgerinnen und Bürger die Wahrnehmung der subjektiv-willkürlichen Behandlung durch den Staat und fördert somit die Akzeptanz für andere – auch sanktionierende – Maßnahmen durch Erwartungssicherheit in ein stets ähnliches Handeln des Staates.
Die individuelle Mentalität – Der Staat als Feind
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollten den Staat wieder mehr als theoretischen Feind betrachten – als Gegner, dessen Handeln es stets zu hinterfragen gilt. Sie sollten propagieren, dass ein gesundes Misstrauen gegen die staatliche Ordnung eine keinesfalls verwerfliche Haltung für die Bürgerinnen und Bürger ist. Der Liberalismus und unser modernes Grundrechtsverständnis erwuchs schließlich aus einer Haltung, den (vorrangig absolutistischen) Staat als Feind betrachten und sich gegen dessen Agieren zur Wehr setzen zu können. Die GRÜNEN schöpften einen erheblichen Teil ihrer Gründungserzählung aus dem Kampf der 68er-Bewegung gegen das staatliche Establishment. Warum sollte man als GRÜNER den Staat – gerade in Zeiten der Überwachungsskandale – nicht wieder mehr als Feind, als natürlichen Antagonisten der Bürgerinnen und Bürger, was deren Freiheit angeht, betrachten? Ihn als theoretischen Feind zu betrachten bedeutet dabei keineswegs, ihn zu bekämpfen oder dergleichen, sondern vor allen dem Staat gegenüber eine gewisse Grundskepsis walten zu lassen und ihn nicht mit blindem Vertrauen auszustatten.
Das Hinterfragen staatlichen Handels ist eine bürgerliche Tugend schlechthin. Nur so kann sich staatliches Handeln weiterentwickeln und angepasst werden. Das Verhalten, was BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in guter Art und Weise bei Bürgerrechtseingriffen an den Tag legt und – im Sinne des Verständnisses von Bürgerrechten als Abwehrrechten gegen den Staat – mit der Hinterfragung der Notwendigkeit des staatlichen Eingriffs einher geht, sollte dabei Vorbild für alle Politikbereiche sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollte nicht nur auf den Bürgerrechtsschutz angewendet werden, sondern sollte sich grundsätzlich in allen politischen Forderungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wiederfinden.
Das Verhältnis von Staat zu Bürgern – mehr Republikanismus?
Ein liberales GRÜNES Staatsverständnis muss die Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger zum Ziel haben. Es muss erkennen, dass der Staat gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ein Mäßigungsgebot bei der Reglementierung ihres Verhaltens einhalten muss. Gleichzeitig muss ein solches Staatsverständnis antizipieren, dass die Bürgerinnen und Bürger sich auf den Staat verlassen können müssen und dieser ihnen in der Not zur Seite stehen muss, allerdings das Individuum nicht vollumfänglich in der Wiege des Staats betten darf und gleichzeitig eine gewisse Bringschuld gegenüber dem Staat hat (was insbesondere der klassische Liberalismus so nicht vollumfänglich teilen würde).
Wir brauchen eine Ausrichtung der Politik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich wieder stärker an den Grundzügen des liberalen Republikanismus und dessen Verständnis des Verhältnisse von Staat und Bürger orientiert. Zur Frage eines GRÜNEN Liberalismus wären längere Abhandlungen notwendig. Verkürzt muss gelten: Der Staat ist für die Bürgerinnen und Bürger weder Gnadeninstitution (wie es manch Konservative für die wahre Existenzberechtigung des Staates halten), sondern er verdankt schlicht seine Existenzgrundlage der Bürgerschaft und ist somit eine Gebilde der Bürgerinnen und Bürger für die Bürgerschaft. Noch darf er in diesem Zusammenhang ein etatistisches Gesamtgebilde sein, das die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger behindert oder das genaue Gegenteil im totalen Marktliberalismus darstellen. Er muss die individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Regulierungswillen sowohl der Regierung als auch der Mehrheit der Bevölkerung schützen. Gleichzeitig müssen die Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass der Staat nichts abstraktes, sondern ihr ureigenstes Gebilde ist, dass sie mit Leben und Werten füllen sollen. Hier entsteht eine Verantwortung für jede Einzelne und jeden Einzelnen.
Ein liberaler Republikanismus wäre vielmehr als Blaupause einer wirklichen Umsetzung grüner Freiheitspolitik geeignet, als reine Debatten über BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das Verhältnis zum Liberalismus. Er ermöglicht die Abgrenzung zum reinen Liberalismus indem er die Ansprüche des Individuums gegen den Staat begrenzt und die Macht Einzelner in der Gesellschaft dezimiert, jedoch gleichzeitig dem Individuum ein höchstes Maß an individueller Gestaltungsfreiheit lässt. Er sichert damit die Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie davor ab, dass das individuelle Verhalten von der reinen numerischen Mehrheit bestimmt wird – gerade auch wenn es um die Beschneidung von Rechten und Handlungen im höchstpersönlichen Lebensbereich geht.
Ausblick
Wir brauchen eine Debatte über das GRÜNE Staatsverständnis und eine Debatte über die Grundlagen eines liberalen Republikanismus als Richtschnur GRÜNEN Denkens und Handelns. Eine fundierte Debatte über die Grundlagen des Staatsverständnisses von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dürfte für die programmatische Weiterentwicklung fruchtbarer sein als abstrakte Debatten über Freiheitsbegriffe. Nicht zuletzt war der Anstoß der Freiheitsdebatte in Form des Veggie-Days nicht weniger als der Konflikt um die Frage des Umfangs der Durchregelung der privaten Sphäre durch staatliches Handeln oder zumindest staatlich intendiertes Handeln. Innerhalb des GRÜNEN Diskurses über Freiheit sollte daher die Diskussion des Staatsverständnisses und der diesbezügliche Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit GRÜNER Politik umfassend beleuchtet werden. Eine solche Debatte ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie mit der Bereitschaft verbunden ist, in der Programmatik und der politischen Praxis von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNE auch etwas zu verändern, sonst bleibt die Freiheitsdiskussion eine Selbstvergewisserungsdiskussion, die alsbald von der Realität des politischen Prozesses überholt wird.