Paula Piechotta, MdB und Valentin Lippmann, MdL
Am 01. September hat neben Thüringen auch Sachsen seinen Landtag neu gewählt. Die Wahlen standen bundesweit unter besonderer Beobachtung, zum einen, weil sie nach der Europawahl als weiterer wichtiger Stimmungstest für die Bundespolitik galten, zum anderen weil es bereits weit vor den Urnengängen die große Sorge vor dem weiteren Erstarken der AfD und der faktischen Unregierbarkeit der Bundesländer gab.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen hat diese Wahlen – mit sehr großen Verlusten – an der Überlebensgrenze abgeschlossen. Die erlittenen Verluste können zu großen Teilen, aber nicht allein, mit dem gesunkenen Bundestrend der Partei erklärt werden. Im Folgenden wird der Versuch der Ursachenanalyse aus Sicht zweier BÜNDNISGRÜNER Mandatsträger betrieben und dabei neben den zentralen Trends auch der Blick auf mögliche Fehler in der strategischen Planung, taktischen Aufstellung und Ausführung des Wahlkampfs geworfen sowie erste Schlussfolgerungen für zukünftige Wahlkämpfe gezogen.
Ausgangslage
Nach der Landtagswahl in Jahr 2019 hatte sich in Sachsen eine Kenia-Koalition aus CDU, GRÜNEN und SPD gebildet, die trotz des Anscheins regelmäßiger Zerstrittenheit im Ergebnis verhältnismäßig gut miteinander regierte. Vergleichsweise hohe allgemeine Zustimmungswerte zur Koalitionsarbeit im Freistaat und anhaltendes Mitgliederwachstum während der Regierungszeit im Landesverband von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führten dazu, dass die Regierungsbeteiligung mit Ausnahme der problematischen Rolle des Ministerpräsidenten nicht als wesentliche Belastung für den Wahlkampf identifiziert wurde.
Sehr deutlich wurde hingegen die Rolle des insbesondere seit der Europa- und Kommunalwahl sinkenden Bundestrends wahrgenommen. Diese war und ist maßgeblich durch das bundesweit einbrechende Wählerpotential von zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2021 ca. 50% auf aktuell < 30% bestimmt und wirkte sich bundesweit bei seitdem stattfindenden Landtagswahlen negativ auf grüne Wahlergebnisse, insbesondere in nicht-urbanen Regionen aus. Als sächsischem Nebeneffekt verschob sich seit der Bundestagswahl 2021 zusehends die Angriffslinie des Ministerpräsidenten in Richtung Bundesebene, die noch verstärkt wurde durch das zunehmende gesellschaftliche Mainstreaming von Anti-Grünen-Narrativen aus Richtung Wagenknecht und AfD.
Mit Blick auf die jüngeren Umfrageergebnisse deutete sich frühzeitig ein Wahlkampf an, der sich wie zur Landtagswahl 2019 um die Frage drehte, ob die CDU oder die AfD stärkste Kraft werden könnten. Nach der Europawahl traten zudem die Fragen hinzu, wie stark das neu gegründete BSW bei seinen ersten Landtagswahlen werden würde und wie schnell die Linkspartei auf die für sie desaströsen Europawahlergebnisse in Sachsen reagieren würde. Gleichzeitig wurde immer stärker das Narrativ gesetzt, dass es für SPD, GRÜNE und LINKE schlussendlich vor allem um den Fortbestand der parlamentarischen Vertretung gehen würde. Im Vergleich zu den vorgenannten Punkten wurde deutlich weniger stark diskutiert, ob eine Regierungsbeteiligung ohne populistische Parteien erreicht werden könne. Zentrale Punkte der Nach-Wahl-Debatten wie die Frage der CDU-internen Bewertung des BSW, der Rolle der bundespolitischen Fremdbestimmung von sächsischen Koalitionsgesprächen etc. spielten vor der Wahl kaum eine entscheidende Rolle.
Wahlergebnisse und zentrale Befunde
CDU
Die CDU erreicht bei der Landtagswahl ein Ergebnis von 31,9% der Stimmen. Das sind minimale Verluste (-0,2%) gegenüber dem Wahlergebnis fünf Jahre zuvor. Erstmals seit langem ziehen eine große Zahl CDU-Abgeordnete über die Liste statt über Direktmandate in den Landtag ein, was eine Zeitenwende für die CDU Sachsen bedeutet, da insbesondere die Abgeordneten im ländlichen Raum ihre Mandate verloren haben, während jene in den Großstädten verteidigt werden konnten. Gleichzeitig verliert sie vier Mandate und liegt damit nur noch ein Mandat vor der AfD. Damit erreicht die CDU faktisch ihr schlechtestes Wahlergebnis seit Wiedergründung des Freistaates Sachsen. Der CDU gelingt es dennoch, die Zahl der auf sie entfallenden Listenstimmen zu steigern und über 53.000 Stimmen dazu zu gewinnen.
Die zusätzlichen Stimmen konnte die CDU vor allem aus dem Nichtwähler-Lager und ehemaligen Wählerinnen anderer nicht-populistischer Parteien gewinnen, insbesondere von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in geringerer Zahl auch von bisherigen Wähler*innen der LINKEN. Zugleich verliert die CDU eine hohe zweistellige Tausenderzahl an Wähler*innen in Richtung der AfD und des BSW.
Aus den veröffentlichten Nachwahlbefragungen ergeben sich zwei für die Bewertung des Wahlergebnisses relevante Befunde. Zum einen gaben 52% der befragten CDU-Wähler*innen an, die CDU im Wesentlichen gewählt zu haben, um die AfD von der Macht fernzuhalten. Zum anderen zeigen die abgefragten Kompetenzzuschreibungen, dass die CDU in allen relevanten Kompetenzbereichen – teils massiv – verloren hat. Es lässt sich also feststellen, dass die CDU zunehmend weniger ihrer Inhalte gewählt wurde, sondern vielmehr wegen des Funktionsargumentes, dass mit einer starken CDU die AfD geschwächt würde. Unklar bleibt, wieviel Anteil daran die Person des Ministerpräsidenten hat.
AfD
Die AfD gewinnt sowohl prozentual als auch in Zweitstimmen relevant hinzu, der befürchtete Siegeszug blieb jedoch aus. Gegenüber dem rechnerischen Anspruch des Jahres 2019 gewinnt die AfD lediglich ein Mandat dazu und verfehlt die relevante Minderheit von mehr als einem Drittel der Landtagssitze knapp. Dabei gewinnt die AfD vor allem Stimmen aus dem Nichtwähler-Segment und von der CDU dazu. Die Verluste in Richtung des BSW sind im Verhältnis hierzu eher marginal.
Die AfD kann die Zahl ihrer Direktmandate steigern, was dazu führt, dass außerhalb der Ballungsräume und mit Ausnahme weniger weiterer Wahlkreise fast alle Wahlkreise in den Landkreisen durch die AfD gewonnen wurden – hier setzt sich nun auf Landesebene ein Muster durch, das bereits zur Bundestagswahl 2021 erkennbar wurde. In den Kreisfreien Städten gelingt es der AfD indes erneut nicht ein Mandat zu gewinnen.
Der von der AfD propagierte Machtwechsel ist somit ebenso ausgeblieben, wie ein deutliches Erstarken der rechtsextremen Partei. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbige sich bereits 2019 auf einem hohen Niveau befand und nunmehr erstmals auch die – von vielen als unüberwindbare Barriere angesehenen – 30%-Marke übersprungen hat.
BSW
Das BSW holt aus dem Stand 11,8% der Stimmen. Das ist zwar weniger als zwischenzeitlich in einigen Ausreißer-Umfragen vermutet, aber zugleich eines der besten Ergebnisse einer frisch gegründeten Partei, das jemals bei einer Landtagswahl erzielt wurde.
Die Zweitstimmenergebnisse sind dabei in allen Regionen Sachsens stark ausgeprägt, wobei sich insbesondere in Südwestsachsen ein überproportionaler Stimmenanteil verzeichnen lässt und in Ostsachsen ein eher unterproportionaler – gegebenenfalls spiegelt das die Mitgliederverteilung des BSW in Sachsen, die vor allem aus Südwestsachsen rekrutiert werden. Auch in den kreisfreien Städten liegt das BSW über 10%, in Chemnitz sogar bei 15%.
Nach den Wählerwanderungsstatistiken erhält das BSW seine Stimmen zu einem Drittel von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der LINKEN sowie zu jeweils einem Fünftel aus dem Segment der Nichtwählenden und von der CDU. Die Zahl ehemaliger AfD-Wähler, die nun das BSW wählen, fällt verhältnismäßig gering aus und dürfte weder für das Wahlergebnis der AfD noch für das des BSW von erheblicher Bedeutung sein.
SPD
Die SPD verliert im Vergleich zum letzten Urnengang nur marginale Stimmenanteile (-0,4%) und kann bei den absoluten Zweitstimmen sogar moderat zulegen.
Mit Blick auf die Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen zeigt sich, dass die SPD unter den kleinen Parteien jene ist, deren Wahlergebnis am gleichmäßigsten über den gesamten Freistaat verteilt ist. Während die SPD ihr bestes Ergebnis im Wahlkreis Dresden 2 mit 14,2% einfährt, erhält sie ihr schlechtestes in der Gemeinde Schönach mit 1,6%. Signifikant ist dabei, dass die größten Zugewinne die SPD vor allem in den Kreisfreien Städten realisiert.
Wie auch schon bei den vergangenen Wahlen gelingt es der SPD nicht, ein Direktmandat zu gewinnen – selbst Martin Dulig, der einen ausgewiesenen Direktstimmenwahlkampf geführt hat, kommt am Ende auf verhältnismäßig unbedeutende 14% der Stimmen. Das bedeutet r auch, dass in der SPD, anders als bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Linkspartei, wo erhebliche Teile der Kraftanstrengungen in einzelne Direktwahlkämpfe flossen, um sich hier über die Grundmandatsklausel mit zwei Direktmandaten abzusichern, der Direktwahlkampf eine weitgehend untergeordnete Rolle gespielt hat.. Vielmehr war die SPD gezwungen, mit einer ressourcenintensiven Zweitstimmenkampagne, dem Herstellen von großer Sichtbarkeit durch starke Personalisierung und relevante Unterstützung durch die Bundespartei sowie einem glaubwürdigen Funktionsargument, der gestiegenen Wahlbeteiligung einen Zuwachs an Absolutstimmen zu erzielen. Unklar bleibt schlussendlich der Effekt der starken schwarz-roten Signale des Ministerpräsidenten auf die Wahlentscheidung der SPD-Wählerinnen und -Wähler. Den Verlust einer nicht unerheblichen Zahl von Stimmen an die CDU (mutmaßlich taktisches Wahlverhalten) wird durch Zugewinne von Wählenden der GRÜNEN und der LINKEN ausgeglichen, was gegebenenfalls durch das stärkere Funktionsargument bedingt ist. Inwieweit der Wahlaufruf von Volt für die SPD sich hierbei signifikant niedergeschlagen hat, wird vorerst eine offene Frage bleiben.
Durch die starke Verbindung der Spitzenkandidatin mit einem klassischen sozialen gesellschaftlichen Themenportfolio gelang es der SPD offenkundig in den bekannten Wechselwahlmilieus zwischen SPD und BÜNDNISGRÜNEN zu punkten (2019 hatten hier die GRÜNEN von entsprechenden Wanderungsbewegungen der SPD-Wählerinnen profitieren können). Hierbei kam den Sozialdemokraten auch zu pass, dass sie im Bundestrend zwar schlechter als bei der letzten Bundestagswahl, aber besser als 2019 dastehen und, dass bei der SPD die Erzählung einzahlte, dass sie mangels Erfolgsaussichten nicht über die Grundmandatsklausel absicherbar ist und somit zwingend für den Wiedereinzug in den Landtag auf ein gutes Zweitstimmenergebnis angewiesen ist – dies dürfte eine entsprechendes taktisches Wahlverhalten zugunsten der SPD verstärkt haben.
DIE LINKE
Die LINKE gilt als der nominell größte Verlierer der Wahl. Sie hat ihr prozentuales Wahlergebnis gegenüber 2019 mehr als halbiert, im Vergleich zur Landtagswahl 2014 geviertelt und erstmals die 5%-Hürde verfehlt. Lediglich der Gewinn von zwei Direktmandaten in Leipzig sichert ihr Fortbestehen im Sächsischen Landtag über die sog. Grundmandatsklausel ab – ebenfalls ein Muster, das bereits zur Bundestagswahl 2021 ähnlich relevant für den Landesverband war. Die Fraktion verkleinert sich von ehemals 14 Mandaten auf nunmehr nur noch 6 Abgeordnete. Damit hat die LINKE binnen von 10 Jahren die Zahl ihrer Mandate auf ein Fünftel reduziert.
Dabei verliert die LINKE komplett in der Fläche an Stimmen und Stimmanteilen. Lediglich in zwei Leipziger Wahlkreisen kann sie marginale Zugewinne an Zweitstimmen verzeichnen. Dabei ist jedoch auffällig, dass die LINKE in Leipzig deutlich stabiler im Vergleich zur vorherigen Wahl steht, als in Dresden, wo sie ebenfalls signifikant verliert. Dieser Befund ist einer der wesentlichen Gründe, warum sich Dresden und Leipzig zunehmend politisch auseinanderentwickeln. Den überwiegenden Teil der Stimmen verliert die LINKE dabei an das BSW und (vermutlich wahltaktisch induziert) an die CDU.
Den bereits seit 2014 gewonnen Wahlkreis im Leipziger Süden kann die LINKE mit sehr hohen Zustimmungswerten für Juliane Nagel verteidigen. Mit Blick auf die Ausgangslage sehr deutlich fällt indes das Direktstimmenergebnis im Wahlkreis Leipzig Zentrum/Ost für den dort erfolgreichen Wahlkreisbewerber der LINKEN aus. Hier ist aktuell noch nicht abschließend zu erklären, ob die hohe Mobilisierbarkeit der Wählerschaft in diesem Wahlkreis für taktische Wahlargumente und das Funktionsargument „Sperrminorität der AfD im Landtag verhindern“, das vor allem mithilfe extern finanzierter Kampagnen von Campact und „Taktisch wählen“ sehr intensiv im Wahlkreis ausgespielt wurde, der einzige wesentliche Grund für den Verlust des grünen Direktmandats in diesem Wahlkreis sind. Im Kern spricht viel dafür. Es zeigt dabei, dass der massive Mitteleinsatz in diesem Wahlkreis von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterschätzt wurde und ihm auch nicht suffizient begegnet werden konnte. Für kommende Wahlkämpfe bedeutet das insbesondere mit Blick auf die aktuell gewonnenen grünen Direktwahlkreise in Dresden und Leipzig, dass hier potentiell sehr viel größere Ressourcen- und Strategieaufwände betrieben werden müssen als bislang, um im Zweifel diese Wahlkreise auch gegen massive Kampagnen von außen verteidigen zu können. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird sich auch mit der Frage beschäftigen müssen, wie dem zunehmenden Verfangen hochgradig populistischer Wahlkampfversprechen im Wahlkampf begegnet werden kann – inklusive der Frage, warum selbst einzelne GRÜNE Mitglieder empfänglich hierfür empfänglich sind.
Für die Landtagsfraktion der LINKEN bedeutet das Wahlergebnis auch, dass neben der erheblichen Schrumpfung vor allem auch eine Schwächung der Bewegungslinken-Strömung in der Landtagsfraktion zu verzeichnen ist und damit die Korridore zur parlamentarischen Zusammenarbeit mit der LINKEN im Landtag enger werden dürften.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das BÜNDNISGRÜNE Wahlergebnis ist im Vergleich zu 2019 ein Desaster. Mit gerade einmal 2.568 Stimmen über der 5%-Hürde gelingt der Wiedereinzug in den Sächsischen Landtag denkbar knapp. Die Zahl der Mandate schrumpft auf 7 und damit auf den zweitschlechtesten Wert der GRÜNEN Parlamentshistorie in Sachsen. Das Wahlergebnis kann nicht allein mit dem Bundestrend erklärt werden, da unter Betrachtung der bisherigen Wahlergebnisse im Freistaat mit dem zum Zeitpunkt der Landtagswahl herrschenden Bundestrend ein sächsisches Wahlergebnis von um die 6,0% hätte erreicht werden müssen. Es fand also eine negative Abkopplung vom Bundestrend nach unten statt, die auf Landes-Effekte zurückzuführen ist.
Insgesamt verlieren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Vergleich zur letzten Landtagswahl 67.000 Stimmen. Auch wenn dies immer noch das drittbesten Absolutstimmenergebnis darstellt, führt insbesondere die hohe Wahlbeteiligung dazu, dass die 5%-Hürde nur minimal übersprungen werden konnte. Geringe zusätzliche Wahlbeteiligungssteigerungen, die von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht beeinflusst werden können, führen damit in der Zukunft ohne einen Zuwachs an Absolutstimmen potentiell zum Ausscheiden aus dem Landtag – ein Effekt, der im Nachbarbundesland Thüringen zeitgleich beobachtet werden konnte.
Zugleich gelang es nicht alle drei zuletzt gewonnenen Direktmandate zu verteidigen, da das Mandat im Leipziger Zentrum an die LINKE gefallen ist. Die Hoffnung auf den Gewinn weiterer Direktmandate in Dresden erfüllte sich ebenso nicht. Beim Blick auf die beiden größten Städte fällt dabei auf, dass sich die Situation von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zunehmend unterscheidet. Während in Leipzig die für BÜNDNISGRÜNE relevanten Wahlkreise in einem Konkurrenzverhältnis mit der LINKEN entschieden wurden, spielt diese Konkurrenzlage in Dresden nahezu keine Rolle. Dort ist es eher die Konkurrenz zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als stärkste Kraft im progressiven Lager und der CDU, die den Wahlkampf in den aussichtreichen Wahlkreisen geprägt haben. Bei beiden direkt gewonnenen Wahlkreise ist auffällig, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht auch zugleich die meisten Zweitstimmen erreichen konnten.
Bei der Verteilung der Zweitstimmen fällt auf, dass sich der Anteil von Leipzig und Dresden an den Gesamt-Zweitstimmen im Freistaat zur letzten Landtagswahl noch einmal erheblich vergrößert hat: Leipzig trägt inzwischen 34% aller Landesstimmen zum Ergebnis bei, Dresden 31%. Die Gesamtheit der Flächenwahlkreise in ganz Sachsen erreicht mit ca. 29,3% weniger Zweitstimmen als Leipzig oder Dresden allein, die Zweitstimmen konzentrieren sich aber auch in den Flächen-Landkreisen vor allem auf die Mittelstädte. Vor diesem Hintergrund sollten sich zukünftige Kampagnen noch stärker einer gesonderten Kampagne für die Wählerinnen und Wähler in sächsischen Mittelstädten widmen. Chemnitz koppelt sich unter Berücksichtigung seiner soziodemografischen Zusammensetzung am stärksten von seinem Stimmen-Potential nach unten ab und trägt lediglich 5,5% zum Landesergebnis bei. Die Landkreise Nordsachsen und Vogtland tragen nicht einmal mehr 2% zum Landesergebnis von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei, obwohl in letzterem mit Plauen die fünftgrößte Stadt des Freistaates verortet ist, in welcher die GRÜNEN gerade noch 2,7% an Zweitstimmenanteil erreichen. Ähnliches gilt für Zwickau, wo der BÜNDNISGRÜNE Zweitstimmenanteil bei lediglich 2,5% gelegen hat.
Zugewinne beim Zweitstimmenanteil können die GRÜNEN lediglich in mikroskopischer Größe in einer einzigen Gemeinde erzielen (Laußnitz). Ansonsten zeichnet sich ein massiver Verlust über die gesamte Fläche ab, wobei sich die maßgeblichsten Verluste in den Kreisfreien Städten ergeben, zugleich jedoch der nicht-urbane Raum überproportional verloren hat. Insbesondere im Erzgebirge und in Ostsachsen fallen die Zweitstimmenanteile vielfach unter die 1%-Schwelle.
Ein Blick in die Nachwahlbefragungen zeigt, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in allen Altersgruppen und Bevölkerungsgruppen verloren hat. Dabei stechen vor allem folgende Befunde ins Auge: In der weniger numerisch als symbolisch wichtigen Gruppe der 18- bis 24-Jährigen wurde der Zustimmungswert mehr als halbiert (von 20% auf nur noch 8%). Zugleich verzeichnen die GRÜNEN ähnliche Einbrüche in den relevanten Altersgruppen der 25 bis 45-Jährigen. Dies geht einher mit einem überproportionalen Verlust der Zustimmungswerte bei Frauen. Legt man die entsprechenden Zahlen übereinander fällt auf, dass es einen gravierenden Einbruch in der bedeutenden Kernzielgruppe der Frauen zwischen 25 und 45 Jahren gibt, die für das Wahlergebnis von erheblicher Relevanz sind.
Glaubt man den zumindest groben Linien der Wanderungsstatistiken gehen die Verluste nahezu ausschließlich in Richtung CDU und SPD, wobei der Verlust in Richtung der CDU der relevanteste ist. Hier zeigt sich – stärker noch als 2019 –, dass viele Wähler*innen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch diesmal wieder aus demokratiestabilisierender Sicht und nicht aus parteipolitischer Überzeugung gewählt haben. Die fehlende Zustimmung unter GRÜNEN-Wählerinnen und -Wählern zur Bilanz der Kenia-Koalition und das schwächere Funktionsargument im Vergleich zu CDU und SPD bleiben aktuell schwer quantifizierbare weitere Faktoren, die zu den Stimmen-Verlusten an beide Parteien beigetragen haben dürften.
Das Direktmandat der Freien Wähler
Für eine gewisse Überraschung sorgen die Freien Wähler, die zwar landesweit nur auf 2,3% der Zweitstimmen kommen, aber im Wahlkreis Leipzig Land 3 mit dem Grimmaer Oberbürgermeister Berger das Direktmandat erringen können.
Dieses Mandat könnte sich noch als Hypothek für die Mehrheitsbildungen im Landtag erweisen, da längst nicht sicher ist, dass er als Einzelabgeordneter nicht zukünftig das Zünglein an der Waage beim Ausüben einer etwaigen Sperrminorität ist.
Gestiegene Wahlbeteiligung
Wie schon 2019 ist auch 2024 die Wahlbeteiligung noch einmal gestiegen. Von dieser Steigerung profitieren allerdings vor allem CDU, AfD und BSW überproportional. In der Annahme, dass die Zugewinne aus diesem Segment bei AfD und BSW dadurch zustande gekommen sind, dass hier insbesondere die letzten Lücken im Angebot für jene Wählenden geschlossen wurden, die bisher keine Wahloption hatten, zeigt sich ein demokratiestabilisierender Effekt allenfalls bei der CDU, bei der die Sorge um eine mögliche Machtoption der AfD offenbar auch in der Mobilisierung von Nichtwählenden mündete. Im Kern zeigt sich jedoch, dass steigende Wahlbeteiligungen im Konkreten nicht den demokratischen Parteien gleichermaßen nützen, sondern vielmehr die klassisch sehr stark ausmobilisierten Parteien, zu denen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehört, von derartigen Entwicklungen nicht profitieren.
Trends des Wahlkampfes und Erkenntnisse aus der Wahl
Ein Wahlkampf ohne (landespolitische) Inhalte
Wohl selten wurde in Sachsen ein Wahlkampf wie 2024 fast ausschließlich über Funktionsargumente statt über inhaltliche Forderungen geführt. Die medialen Auseinandersetzungen konzentrierten sich ausschließlich auf Macht- und Koalitionsfragen, sowie den damit verbundenen taktischen und strategischen Wahloptionen. Dazu passt, dass alle regierenden Parteien – teils massiv – in den Kompetenzzuschreibungen eingebrochen sind, denn wo keine Inhalte sind, kann man auch keine Kompetenz in selbigen vermitteln.
Wenn überhaupt ein Inhalt greifbar war, so war es die absurde Auseinandersetzung über „Krieg und Frieden“ – ein Thema ohne erkennbaren landespolitischen Bezug, dafür aber mit hoher Symbolwirkung.
Hier fällt jedoch auf, dass die Ablehnung der Ukraine-Unterstützung auf Bundesebene Wählerinnen und Wähler stärker motiviert, BSW oder AfD zu wählen als die Unterstützung der Ukraine die Wählerinnen und Wähler motiviert, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu wählen, die als einzige relevante Partei im Wahlkampf einen klaren Pro-Ukraine-Kurs vertraten. Lediglich 5% der Wählerinnen und Wähler von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben an, dass die Ukraine-Politik eine wichtige Rolle bei ihrer Wahlentscheidung spielte, beim BSW waren dies indes 21% der Wählerinnen und Wähler. Jene 5% der GRÜNEN-Wähler*innen entsprechen in diesem Kontext 0,2% der Gesamtheit der Wählerinnen und Wähler. Es zeigt sich, dass anders als im populistischen Lager, bundespolitische Themen von Wählerinnen und Wählern im demokratischen Spektrum weniger wahlentscheidend wirken und die Mobilisation GEGEN eine aktuelle Bundespolitik besser funktioniert als die Mobilisation für die Unterstützung der aktuellen Bundespolitik.
Hinzu trat der Charakter der Wahl als bundespolitische Zwischenwahl ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl. Nicht nur die Wahltrends der Parteien wurden stark bundespolitisch determiniert, auch die äußerst begrenzte inhaltliche Auseinandersetzung erfolgte im Kern auf Grundlage bundespolitischer Themen (Frieden, Migration, Wirtschaftslage).
Der Pyrrhussieg der CDU
Trotz eines besseren Bundestrends als 2019 und vor allem trotz einer erheblichen Zahl an rein taktisch induzierten Stimmen für die CDU fährt sie das prozentual schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte im Freistaat ein. Dieser vermeintliche Sieg von Michael Kretschmer hat einen hohen Preis – für die sächsische CDU ebenso wie für die politische Landschaft in Sachsen.
Die sächsische CDU hat sich in den letzten Jahren immer mehr zum Potemkin’schen Dorf einer Stabilitätserzählung für Sachsen entwickelt. Wenn 52% der Wählenden der CDU diese aus Angst vor einer erstarkenden AfD gewählt haben und zugleich sämtliche Kernkompetenzen pulverisiert wurden, liegt der Grund für die Wahl der CDU nicht mehr in ihren Inhalten oder – schon längst aufgegebenen – Werten, sondern nur noch im Schein des kleineren Übels zur Rettung der Demokratie vor Schlimmerem. Dass es trotz besseren Bundestrend, Leihstimmen und dem Dauerpopulismus des MP gerade noch so dafür gereicht hat, stärkste Kraft zu werden, zeigt, dass die Fassade jener Scheinbebauung schon längst bröckelt.
Größer aber dürfte der Schaden für Demokratie sein. Durch das Übernehmen rechter Diskurse vom Sündenbock BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben der Ministerpräsident und seine sächsische CDU einen erheblichen Beitrag zu Vergiftung des politischen Klimas im Freistaat geleistet und der Zunahme der verbalen Gewalt im Landtagswahlkampf erheblichen Vorschub geleistet. Mittelfristig wird diese Entwicklung auch der CDU schaden, denn den Wettkampf um den populistischeren Wahlkampf mit der AfD und dem BSW kann sie nicht gewinnen.
Als Ergebnis hat der Ministerpräsident das Wahlergebnis und die Koalitionsoptionen bekommen, für die er sich im Wahlkampf höchst selbst stark gemacht hat.
Sachsen hat sich vertaktiert – die massive pseudo-strategic turn bei der Landtagswahl
Taktisches Wahlverhalten ist so alt wie die Bundesrepublik und hat seit jeher die Auseinandersetzungen über das Zustandekommen von Wahlergebnissen geprägt. Viele Jahrzehnte betraf dies vor allem das Stimmensplitting zwischen Erst- und Zweitstimmen, vor allem bei Wähler*innen kleinerer Parteien. Der Topos der taktischen Wahl ist somit kein neuer. Er findet in Sachsen jedoch von Wahl zu Wahl eine neue – extreme – Ausprägung. Taktisches Wählen bedeutet, dass man mit seiner Stimme auf dem Wahlzettel das Verhindern einer bestimmten Konstellation wichtiger findet als das Unterstützen bestimmter Parteien.
Bereits 2019 erlebte Sachsen einen ausgeprägten Moment des taktischen Wählens. In der Vermittlung der Legend, dass nur eine starke CDU und deren Rolle als stärkste Kraft das wirksamste Mittel gegen das Erstarken der AfD wäre, wählten zehntausende Menschen in Sachsen vorrangig aus taktischen Gründen mit der Zweitstimme die CDU – es ist zu unterstellen, dass dies 2019 den GRÜNEN beispielsweise ein zweistelliges Wahlergebnis gekostet hat, was mit Blick auf den damaligen Bundestrend faktisch erwartet wurde, aber nicht eintrat.
Während 2019 das taktische Wahlverhalten noch auf einer eher sublimalen Ebene zu erreichen versucht wurde, war der Wahlkampf des Jahres 2024 von offenen Aufforderungen hierzu geprägt. Die CDU appellierte bis hin zum Bundesvorsitzenden bereits frühzeitig explizit an die Wähler*innen von GRÜNEN, SPD und LINKEN lieber CDU zu wählen – schlussendlich trotz Gegenwehr der Parteien mit Erfolg.
Bei der aktuellen Landtagswahl erreichte die Debatte um das taktische Wahlverhalten jedoch eine gänzlich neue Ebene – das taktische Wählen im Wahlkreis mit Bedeutung für die Zusammensetzung des Landtages wurde in den Fokus gerückt. Durch die Bemühung der bereits bei der Bundestagswahl bedeutsamen Grundmandatsklausel, war es insbesondere die LINKE, die das taktische Wählen in mehreren Wahlkreisen zur Lebensversicherung für sich selbst erklärte und dies mit der Botschaft koppelte, dass ohne LINKE im Landtag auch nominell die AfD ein größeres Gewicht erhalten würden. In der Folge entstand das Gefühl, dass die LINKE weit mehr Ressourcen in das Gewinnen zweier Direktmandate investierte als in die landesweite Kampagne, damit aber letztlich erfolgreich den Fortbestand der Landtagsfraktion erreichte.
Auch wenn das Ziel der LINKEN durch das Gewinnen des Zentrumswahlkreises in Leipzig aufgegangen ist, muss konstatiert werden, dass die Art und Weise der öffentlichen Auseinandersetzungen mit taktischem Wahlverhalten die zumutbaren Grenzen des geordneten Willensbildungsdiskurses in der Demokratie überschritten hatten. Durch massive Kampagnen von Campact, online-Portalen zum taktischen Wählen und massenhaften Wahlaufrufen zum taktischen Wählen ungeklärter Provenienz sowie bezüglich ihrer Herkunft teils ebenso unklarer Budgets für Social-Media-Werbung, dürfte am Ende keiner mehr wirklich durchgesehen haben, was das eigene Stimmverhalten am Ende zur Folge hat – nicht wenige Wählerinnen und Wähler dürften in Anbetracht des Wahlergebnisses das Gefühl haben, sich vertaktiert zu haben. Beispielsweise führte am Ende jede Erststimme im Wahlkreis Leipzig I dazu, dass Sarah Wagenknecht unvermeidlicher Teil der sächsischen Koalitionsgespräche wurde.
Ein etwas ausführlicher Blick auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Wahlergebnis für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist ein herber Schlag. Als Hauptursachen kommen dabei im Wesentlichen zwei Ursachen in Betracht: Der Bundestrend und das strategische Wahlverhalten in Richtung CDU. In diesem Text soll nicht der Fehler gemacht werden, die Ursachen ausschließlich in externalen Faktoren und die Schuld ausschließlich bei anderen zu suchen. Fakt ist, dass der sächsische BÜNDNISGRÜNE Wahlkampf auch zu einem Teil an den eigenen Ansprüchen und Erwartungen gescheitert ist.
Die führende Ursache für das schlechte Wahlergebnis bildet vor allem der niedrige Bundestrend der GRÜNEN, der sich nach dem schlechten Europawahlergebnis nicht erholen konnte. Langezeit galt in Sachsen der grobe mathematische Grundsatz, dass das Landtagswahlergebnis ungefähr der Hälfte des prozentualen Bundestrends entspricht. Mit Blick auf Umfragewerte von 11% bis 12% im Bund wäre somit ein Ergebnis von um die 6% ohne besondere landespolitische Implikationen im Bereich des Erwartbaren gewesen. Dem bundespolitischen Sog konnte sich auch das BÜNDNISGRÜNE Wahlergebnis in Sachsen somit nicht entziehen, eine positive Entkopplung vom Bundestrend hat es anders als zur Bundestagswahl 2021 in Sachsen nicht gegeben, sondern das Ergebnis stellt sogar eine negative Entkopplung vom ohnehin negativen Bundestrend dar.
Dazu kam, wie schon 2019, der Effekt eines erkennbaren massiven taktischen Wechselwahlverhaltens in Richtung der CDU. Mit dem wirkmächtiger ausgespielten Funktionsargument zur Notwendigkeit von GRÜNEN als Garanten einer demokratischen Regierungsmehrheit ohne BSW und AfD hätten analog zur SPD möglicherweise Absolutstimmen im Vergleich zu 2019 gehalten werden können, mit einem relativen Zugewinn von ggf. ebenfalls bis zu 1%. Erneut verfing stattdessen insbesondere bei den Anhängerinnen und Anhängern der BÜNDNISGRÜNEN die Erzählung, dass es notwendig sei, die CDU zu wählen, um das Land vor der AfD zu retten. Auch wenn die Partei sich diesmal frühzeitiger und intensiver als 2019 mit Gegenargumentationen beschäftigte, konnten diese den Verlust von Absolutstimmen nicht stoppen. Eine offene Frage bleibt es, ob ohne die erfolgten Gegenargumentationen das Ergebnis noch schlechter ausgefallen wäre – möglicherweise hat es aber zumindest das Überspringen der 5%-Hürde gesichert. Im Vergleich zur Zweitstimmenkampagne der SPD und der auf einzelne wenige Wahlkreise beschränkte Erststimmenkampagne der Linkspartei muss aber dennoch festgestellt werden, dass diese mit ihrer Kommunikation zur taktischen Bedeutung einer Stimme für sie deutlich erfolgreicher waren bzw. deren Wählerinnen und Wähler für Leihstimmen-Argumente weniger empfänglich sind als die Grundgesamtheit der GRÜNEN-Wählerschaft.
Scheidet man somit den massiv durchwirkenden schlechten Bundestrend und den erneuten Sogeffekt in Richtung der CDU aufgrund der nur schwachen eigenen Gegenargumentation aus, wäre wahrscheinlich unter guten weiteren Umständen und dank der starken personellen Unterstützung aus anderen Landesverbänden noch ein Wahlergebnis von etwas über 6,0% zu erreichen gewesen.
Dass man jedoch noch unterproportional zu diesem Ergebnis abgeschnitten hat, ist schlussendlich auf den Wahlkampf zurückzuführen, der auf gleich mehreren Fehlannahmen beruhte. Außerdem fehlte die Flexibilität der Kampagne, nach den Erkenntnissen der Europawahl und den sich daraus teilweise ergebenden neuen strategischen Herausforderungen richtige Schlüsse für die Landtagswahl zu ziehen, da zu diesem Zeitpunkt bereits zentrale Entscheidungen unumkehrbar waren.
Zu den relevanten Fehlannahmen des Wahlkampfes gehört dabei das zentrale Funktionsargument für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Der ursprünglich logische und in der Kampagne sinnvoll vertiefte Ansatz, dass es starke BÜNDNISGRÜNE in der Regierung braucht, um Sachsen zukunftsfähig zu halten und die begonnenen Veränderungsprozesse fortsetzen zu können, brach sich schlussendlich an der generellen Unzufriedenheit der GRÜNEN-Wählenden mit der Staatsregierung (79% der Wählerschaft war am Wahltag mit der Regierung unzufrieden, der höchste Wert unter den regierungstragenden Parteien).
Es muss konstatiert werden, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Wahlkampf und über diesen hinaus die Hoheit über die Erzählungen über sich verloren haben. Es ist offenkundig nicht gelungen, die vielen BÜNDNISGRÜNEN Erfolge in der Regierungsbeteiligung und die Notwendigkeit von deren Absicherung gegenüber der eigenen Wählerschaft als relevanten Punkt für die Wiederwahl darzustellen. Vielmehr scheint bei vielen BÜNDNISGRÜNEN Anhänger*innen das Agieren des Ministerpräsidenten und dessen Spaltung des Landes und der Koalition tiefere Spuren hinterlassen zu haben als jedwede Erfolgserzählung. Die Bewertung der GRÜNEN-Regierungsbeteiligung basierte offenkundig stärker auf den Narrativen von CDU und SPD als auf denen der nur partiell verfangenden BÜNDNISGRÜNEN Kommunikation. Wer vor diesem Hintergrund darauf verweist, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lediglich stärker die eigenen Kern-Themen in den Vordergrund hätte stellen müssen verkennt, dass eine kleine Partei wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Themensetzungen nicht gegen den Trend setzen kann. Ein stärkerer Fokus allein auf Inhalte wäre im Gesamt-Klima dieser Wahlen vermutlich verpufft.
Als zweite strategische Fehleinschätzung erwies sich die Verbindung der Kampagne mit gleich drei Spitzenkandidat*innen. Der Landtagswahlkampf 2024 war ein Wahlkampf massiver personeller Zuspitzung (Die CDU setzte alles auf ihren Ministerpräsidenten als letzten Retter des Landes, die SPD personalisierte den Wahlkampf komplett auf Petra Köpping). Die notwendige Zuspitzung auf BÜNDNISGRÜNER Seite, die selbst unter anderen Rahmenbedingungen eine Herausforderung gewesen wäre, konnte entsprechend in einem Trio kaum gelingen, zumal es nach außen kaum gelang, die Vielfalt der Milieuwirkung der Spitzenkandidat*innen wirkmächtig zu vermitteln. Hinzu trat die Wahrnehmung, dass die Außenvermittlung des Wahlkampfes in seiner Gänze viel zu spät auf die Spitzenkandidat*innen fokussiert wurde, obwohl diese bereits über ein Jahr vor der Landtagswahl präsentiert worden waren.
Der Wahlkampagne fehlte wiederum eine durchtragende emotionale Einheitlichkeit, was sich exemplarisch in der Ambiguität der zentralen Botschaft in den beiden Wahlkampfspots (Zuversicht oder Apokalypse) zeigte. Gerade in der Schlussphase wirkte die Kampagne dabei so, als wäre der große Teil des Pulvers schon bis zum Auftakt des Wahlkampfes und nicht im eigentlichen Endgame des Wahlkampfes verschossen worden. Dies gilt insbesondere auch für den Wahlkampf in den Sozialen Netzwerken, der nicht die notwendige Performance und Persistenz entfaltete, wie er in heutigen modernen Wahlkämpfen zwingend notwendig ist, um über die Relevanzschwelle zu gelangen.
Ebenso muss konstatiert werden, dass es offenkundig gleichermaßen nicht gelungen ist, auch nur halbwegs prominente Unterstützer*innen für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu finden, die mit ihrem Namen und Gesicht einen Wahlaufruf für GRÜN tätigten – während zugleich die politische Konkurrenz ganze Kleinstparteien als öffentliche Unterstützung auffahren konnte. Dies könnte im Landtagswahlkampf die plastischste Folge der politischen Dauerangriffe auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, die auch dazu führen, dass eine politische Exponierung zugunsten von GRÜN mit immer mehr Ängsten einhergeht.
Schlussendlich muss auch ein kritischer Blick auf die Wahlkampfformate geworfen werden. Jenseits der erfolgreichen Großformate mit Robert Habeck und Annalena Baerbock waren kaum reichweitenstarke Wahlkampformate zu verzeichnen. Zu oft waren zudem deren Sinn und Botschaft nicht erkennbar Aus medialer Sicht wurde – die höhere Erwartungshaltung an die entsprechende Außendarstellung einer Regierungspartei dabei offensichtlich nicht erfüllt. Im Ergebnis fehlte auch – anders als 2019 – das Wohlwollen in der Berichterstattung für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Richtig wichtige Schlussfolgerungen für künftige Wahlkämpfe
Ein Wahlkampf in derlei aufgeladenen Zeiten und knapp über der 5%-Hürde verzeiht keinen Fehler. Umso wichtiger ist es daher, die notwendigen Schlussfolgerungen aus den Analysen und Beobachtungen zu ziehen. Einige erste Ableitungen liegen auf der Hand, wenngleich es Aufgabe einer geordneten Wahlauswertung sein wird, weitere Schlussfolgerungen zu identifizieren. BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN muss jetzt in Sachsen deutlich kampagnenfähiger und organisatorisch professioneller aufgestellt werden, um in wesentlich härteren politischen Zeiten bestehen zu können.
Wahlkreise werden zu swing-states
Das strategische Wählen hat die nächste Stufe erreicht: den Wahlkreis. Mit Blick auf die realen Ergebnisse sichert der LINKEN zwei Wahlkreise in Leipzig das parlamentarische Überleben und hätte es im Falle des Falles je ein Wahlkreis in Leipzig und in Dresden für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesichert, wobei insbesondere der Vorsprung im gewonnenen Leipziger Wahlkreis mit 2.781 Direktstimmen nicht so komfortabel war, dass er als sichere Bank betrachtete werden kann Damit kommt immer mehr einzelnen Wahlkreise eine – von Verfassung wegen – nie vorgesehene Determinierungswirkung für die Sitzverteilung im Landtag und die Regierungsbildung zu. Hypothetisch gesehen scheint es für manche Partei gerade sinnvoller, den Großteil ihrer Ressourcen in eine Hand voll Wahlkreise, als in eine überzeugende Landeskampagne zu setzen. Dies wird sich zur Bundestagswahl erneut zeigen, weshalb alle Parteien sich darauf vorbereiten müssen, dass einigen Wahlkreisen Bedeutungen wie US-amerikanischen swing-states zukommen.
Dabei ist auch zu beachten, dass der Einfluss von außen zunehmen wird. Gerade deshalb braucht es mehr Transparenz bei entsprechenden Unterstützungskampagnen und Aufrufen zum taktischen Wählen, insbesondere sofern damit Geld oder geldwerte Leistungen verbunden sind.
Interelektorale Kampagnenfähigkeit stärken und Kampagnenabsätze flexibilisieren
Die Frage, wie lange eine mögliche Regierungsbeteiligung des BSW hält und ob sie überhaupt zu Stande kommt, führt zwingend zu den Punkt, dass insbesondere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihre Kampagnenfähigkeit stärken müssen. Die nächste Wahl kann schneller anstehen, als viele denken. Dazu kommt, dass bei inhaltlich entleerten Wahlkämpfen das thematische Framing zwischen den Wahlen stattfinden muss und nicht erst im Wahlkampf. Hierfür braucht es agile Konzepte und vor allem operative Strukturen, die in der Lage sind, wirkmächtige Kampagnen zu realisieren.
Dabei muss auch die Performance von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Agenda-Setting verbessert werden. Eine Erkenntnis des Wahlkampfes lautet: Die SPD hat unsere Frames besser gesetzt. Denn Erzählungen und Botschaften wie jene von einer stabilen Regierung, für die es starke GRÜNE braucht, wurden von der SPD für ihre Kampagne adaptiert und deutlich wirkmächtiger erzählt.
Die Wahlkampagnen selbst müssen agiler und flexibler ausgestaltbar werden. Kein Wahlkampf ist wie der andere, jedoch ist das Muster erkennbar, dass Wahlkämpfe und ihre Dynamiken immer später eindeutig lesbar werden. Es ist daher eine zunehmende Illusion, dass Monate vor der Wahl bereits erkennbar ist, welche Themen und Botschaften einen Wahlkampf prägen werden und hierauf basierend nicht nur wesentliche strategische Grundentscheidungen getroffen werden, sondern auch konkret ausgestaltete Wahlkampfprodukte. Hier müssen Ansätze für kurzfristigere und schnellere Entscheidungen entwickelt werden und vor allem auch in Wahlkampfdynamiken die strategischen und personellen Ressourcen existieren, die rechtzeitig neuen Entwicklungen im Wahlkampf erkennen und bearbeiten können.
Neue Räume-Strategie und Kampagnenausdifferenzierung in den Großstädten
Die massive Streuung des Wahlergebnisses von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vor allem zwischen urbanen und nicht-urbanen Räumen, sowie auch innerhalb der urbanen Räume, belegt erneut, dass der Ansatz one-campaign-for-all zum Scheitern verurteilt ist. Es braucht ein neue Räume-Strategie, die basierend auf gemeinsamen Werten und Grundnarrativen die Botschaften und Themen stärker differenziert und dies schlussendlich auch in einer Kampagne umsetzt. Dabei zeigen die Wahlergebnisse auch, dass selbst eine einheitliche Großstadtstrategie nicht ausreichend ist, wenn die Voraussetzungen und Ergebnisse Leipzig und Dresden sich zunehmen unterscheiden, während auf der anderen Seite jedoch signifikante Unterschiede zwischen Chemnitz und dem ländlichen Raum geringer werden.
Die Themen, überzeugende Funktionsargumente und Erststimmen-Konkurrenzkonstellationen entscheiden sich immer fundamentaler zwischen Leipzig und Dresden. Angesichts der zentralen Bedeutung der Ausmobilisierung beider Städte, in denen allein inzwischen 65% des gesamten Wahlergebnisses in Sachsen generiert werden, braucht es in zukünftigen Wahlkampfstrategien eine Ausdifferenzierung der Strategie für die jeweils unterschiedlichen Ausgangssituationen in beiden Großstädten.
Anspruchsvolle Zeiten brauchen moderne Wahlkampfformate und frühzeitige personelle Fokussierung
Die Ausgestaltung von Wahlkampfformaten unterliegt zunehmend hohen Ansprüchen, sowohl in der klassischen medialen Rezeption als auch in der Verbreitungswirkung über Soziale Netzwerke. Gerade die Bildwirkung von Veranstaltungen und weiteren Wahlkampfformaten kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist deshalb notwendig, ausreichend Ressourcen und strategische Vorüberlegungen in die Ausgestaltung von derartigen Formaten zu investieren. Dies bedeutet auch, wenigen, aber hochprofessionellen Veranstaltungen den Vorzug vor einer nicht ausreichend untersetzbaren Breite zu geben.
Moderne Wahlkämpfe sind immer mehr Personenwahlkämpfe, gerade weil in komplexen politischen Lagen die Suche nach Identifikationsfiguren, mit denen man politische Inhalte und/oder ein Zukunftsversprechen verbindet, zunimmt. Die Erfahrung aus diesem Landtagswahlkampf lehrt, dass es – vielleicht auch entgegen BÜNDNISGRÜNER Tradition – eine frühzeitige und durchtragende personelle Fokussierung braucht.
Nicht zuletzt kommen moderne Wahlkämpfe nicht ohne eine erhebliche Emotionalisierung von Inhalten und Personen aus. Wahlkampagnen müssen stärker als bisher auf ihre emotionale Wirkung hin durchdacht und vor allem ausgespielt werden.
Ursachen für fehlende Mitgliedermobilisierung identifizieren
Mit Ausnahme des Kreisverbands Dresden und einzelner Wahlkreise in Leipzig musste der Wahlkampf im gesamten Landesverband trotz deutlich gestiegener Mitgliederzahlen seit 2019 teilweise auch mit dem Problem einer stark unterdurchschnittlichen Mitgliedermobilisierung umgehen. Mögliche Gründe wie eine Erschöpfung nach den Wahlkämpfen des Frühsommers, fehlende Zufriedenheit mit der BÜNDNISGRÜNEN Bilanz der letzten fünf Jahre, Angst vor Angriffen im Wahlkampf oder aber dem Vertrauen darin, dass der Wahlkampf schon laufen würde, müssten mithilfe einer Mitgliederbefragung aufgeklärt werden.