Die Entscheidung des SächsVerfGH im Wege der einstweiligen Anordnung die Liste der AfD zur Landtagswahl bis einschließlich Listenplatz 30 einstweilen zuzulassen ist eine verfassungsrechtliche Überraschung. Daher lohnt es sich einen Blick auf die mündliche Verhandlung, die Entscheidung des SächsVerfGH und die Folgen der Entscheidung zu werfen.
Die mündliche Verhandlung
Der Verfassungsgerichtshof erörterte in der mündlichen Verhandlung sowohl die Fragen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden und der mit ihnen verbundenen Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, als auch im weiteren Verlauf die Begründetheit der Anträge. Letzteres war nicht von vorherein anzunehmen, da dies grundsätzlich dann obsolet gewesen wäre, wenn die Anträge bereits unzulässig wären.
Die mündliche Verhandlung war davon geprägt, dass auf die Fragen des Verfassungsgerichtshofes vielfach unzureichend geantwortet wurde und die Antragsteller, aber auch die Äußerungsberechtigten, mitunter sehr schwammen. Wer eine große verfassungsrechtliche Auseinandersetzung erwartet hatte, wurde etwas enttäuscht. Mehrfach musste sich insbesondere der Berichterstatter in seinem Fragen wiederholen, ehe man sich nur halbwegs dem Anliegen der jeweiligen Frage näherte.
Zuerst widmete sich das Gericht sehr umfassend der Zulässigkeit der Anträge. Die Argumente, die von Seiten der Antragsteller vorgebracht wurden, waren dabei teilweise wenig bestechend und nach meinem Dafürhalten nicht geeignet dazulegen, warum ausnahmsweise der VerfGH von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes abweichen solle, dass der einstweilige Rechtsschutz in Wahlsachen vor der Wahl nicht zulässig sei.
Dabei versteifte sich der Prozessbevollmächtigte der AfD vor allem darauf, dass sich die Zulässigkeit schon alleine aus der fehlenden Rechtwegegarantie ergebe und stellte dar, dass es anders als im Wahlrecht zum Deutschen Bundestag keine Überprüfungsmöglichkeiten gäbe. Nach mehreren Nachfragen des Gerichtes wurde deutlich, dass diese Argumentation sich wohl als wenig fruchtbar erweisen würde.
In der Folge wurden daher jene möglichen Besonderheiten des Falles erörtert, der einen besonderen Ausnahmefall zur bisherigen Rechtsprechung zulasse. Neben einer unterstellten Ausstrahlungswirkung auf Wahlen (die es aber auch bei jeder anderen Entscheidung des Landeswahlausschuss geben könnte), bemühte der Prozessbevollmächtigte der AfD, Prof. Dr. E, den öffentlichen Frieden als zentrales Argument. Dieser sei durch die Entscheidung des Landeswahlausschusses in einem Maße gestört, dass es bereits zu Drohungen gegen den Landeswahlausschuss käme. Diesem Argument trat dann selbst der Prozessbevollmächtigte der anderen Antragsteller (einzelne gestrichene Kandidaten) entgegen, der meinte, dass dies kein Argument sein könne. Wahrscheinlich erkannt er, dass Herr Prof. Dr. E. gerade dargelegt hatte, dass die Verfassungsbeschwerde schon alleine deshalb zulässig un eine einstweilige Anordnung geboten sei, um zu verhindern, dass jene Leute, die mit der Entscheidung des Landeswahlausschusses unzufrieden sein, diese mit Gewalt angreifen würden. So kann man Ursache und Wirkung dann auch wenig elegant versuchen zu verdrehen.
Trotz mehrfachen beharrlichen Nachfragen des Gerichtshofes gelang es kaum, die außerordentliche Ausnahme stichhaltig zu begründen. Eine luzide Herleitung (jenseits der Behauptung eines verfassungsfernen Zustandes), warum beispielsweise ein so schwerwiegender Eingriff in die demokratische Verfasstheit der Wahlen vorläge und dies aufgrund ihrer Bedeutung für die Legimitation im demokratischen Rechtsstaat ausnahmsweise verlange, die Rechtssprechungslinie zu brechen, einfachgesetzliches Recht zu übergehen und gleich noch Art. 45 der Verfassung des Freistaates eins mitzugeben, habe ich zumindest nicht wirklich vernommen. Das Gute für die AfD ist hierbei aber: Der VerfGH ist keineswegs an die Ausführungen der Antragsteller gebunden und kann sich eine entsprechende Herleitung selber konstruieren, egal wie schlecht die Antragsteller in dieser Frage auftraten.
Es folgte dann eine folgelogische Erörterung darüber, ob sich die Zulässigkeit in einem solchen Ausnahmefall überhaupt ohne die Begründetheit prüfen ließe. Hier mühte sich der Berichterstatter sichtlich, aus den Prozessbevollmächtigten eine Antwort herauszubekommen, was der Maßstab für eine solche Entscheidung sei (Im Kern wollte er wohl wissen, ob die Entscheidung des Landeswahlausschusses offenkundig rechtswidrig sein muss oder „nur“ möglicherweise rechtswidrig, damit eine ausnahmsweise Zulässigkeit vorliege). Die Antworten waren wenig erhellend, Prof. Dr. E. warf mit einer EGMR-Entscheidung um sich, die sich aber ausweislich der Intervention des Berichterstatters auf das aktive Wahlrecht eines Mafiosi bezog und somit nicht wirklich tauglich war.
Danach erörterte der Gerichtshof umfassend die Begründetheit. Hier bohrten mehrere Mitglieder des VerfGH tief in der Entscheidung des Landeswahlausschusses. Zunächst ging es hierbei um die Einheitlichkeit der Aufstellungsversammlung. Hierbei gelang es der Landeswahlleitung nur bedingt deutlich zu machen, ob es einen Zwang zur einheitlichen Aufstellungsversammlung gibt und ob und unter welchen Umständen Unterbrechungen der Versammlung zulässig sind. Das provozierte eine Reihe von Nachfragen gleich mehrerer Richter, die mit den Antworten sichtlich unzufrieden waren. Kern der weiteren Erörterung bildete dann die Frage der Möglichkeit des Wechsels des Wahlverfahrens in einer unterbrochenen Versammlung durch neuerlichen Beschluss im laufenden Aufstellungsverfahren. Dies war für den Landeswahlausschuss der zentrale Anhaltspunkt für die Neukonstituierung einer Versammlung. Gleichwohl drehte sich das Rechtsgespräch eher weniger um diesen Aspekt sondern vielmehr darum, welcher konkrete Nachteil für einzelne Kandidaten durch den Wechsel des Wahlverfahrens von Einzel- auf Gruppenwahl in der Versammlung entstünde. Die Frage des Eingriffs in die Chancengleichheit wurde dabei jedoch nur sehr oberflächlich diskutiert.
Nach drei Stunden Verhandlung, die vor allem durch zwischenzeitlich sehr ausschweifender und abschweifender Antworten der AfD so lange dauerte, war klar, dass das Gericht an der Begründetheit der Entscheidung des Landeswahlausschusses zumindest Zweifel hatte. Allerdings erweckte sich der Eindruck, dass es auch erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Anträge innerhalb des VerfGH gibt. Somit war klar, dass es wohl zumindest in Teilen zugunsten der AfD ausgehen würde, wenn das Gericht die Zulässigkeitshürde knackt. Genau das hat es dann schlussendlich auch getan.
Die Entscheidung und ein paar Anmerkungen
Der Verfassungsgerichtshof hat den Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise stattgegeben, indem er die Listenplätze 19 – 30 ebenso zur Wahl zuließ, und somit die Hürde der Zulässigkeit – zur Überraschung vieler – genommen.
Der – noch recht kurzen – Begründung (siehe PM: https://www.verfassungsgerichtshof.sachsen.de/content/1660.htm), die über die Verkündung des bloßen Tenors, hinaus geht, lässt sich entnehmen, dass der Verfassungsgerichtshof im konkreten Fall einen besonderen Ausnahmefall gesehen hat, der ausnahmsweise den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertige. Dieser Ausnahmefall entstehe aus der Kombination, dass sich die Entscheidung des Landeswahlausschusses mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweist und zugleich voraussichtlich einen Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht begründe. Dies sei zumindest für die Nichtzulassung der Listenplätze 19 – 30 der Fall, weil das Gericht hier die Entscheidung des Landeswahlausschuss, der die Notwendigkeit einer Einheitlichkeit einer Versammlung sah, definitv für rechtswidrig erachtet.
Die Entscheidung ist meines Erachtens an zwei Stellen diskussionswürdig.
Zunächst halte ich die Auffassung, dass die Entscheidung des Landeswahlausschusses zur Annahme einer Einheitlichkeit der Versammlung mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig ist, in der Pauschalität für erörterungsbedürftig. Hierzu gab es auch bereits umfassende Diskussionen in verschiedenen Artikeln und Interviews. Der VerfGH geht mir vorerst zu schnell über die Frage hinweg, wann die Kontinuität einer unterbrochenen Versammlung gegeben ist. Ich halte es für ohne Probleme zulässig eine Versammlung zu unterbrechen und auch mit nicht geringem zeitlichen Abstand fortzusetzen, das war auch bisher nicht bezweifelt worden, dennoch gebieten die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), die zumindest in erheblichen Teilen aufgrund des Charakters der Aufstellungsverfahren als Wahlvorbereitungsakt auf die Aufstellungsversammlungen durchschlagen, möglicherweise, dass es zu keiner erheblichen Diskontinuität der Teilversammlungen kommen darf und es auch einer gewissen Kontinuität der personellen und verfahrensmäßig Verfasstheit des Kreationsorganes bedarf. Wann der Punkt erreicht ist, dass eine Diskontinuität anzunehmen ist, dürfte einer komplexen Gesamtschau verschiedener Anhaltspunkte unterliegen. Der Landeswahlausschuss hat den Beschluss eines neuen Wahlverfahrens in der unterbrochenen Versammlung als entscheidenden Anhaltspunkt für diese Diskontinuität und damit als Bruchpunkt der Kontinuität gesehen. Das kann man kritisch sehen und diskutieren, es in der Abwägung zum Erlass einer einstweiligen Anordnung als mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig zu bewerten und daraus unmittelbar den Wahlfehler von außerordentliche Gewicht zu begründen, erscheint mir diskussionwürdig. Zumal diese Einschätzung wahrscheinlich nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann und wird, denn der Verfassungsgerichtshof wird auch in der Hauptsache (wenige Tage vor der Landtagwahl) zu keinem anderen Ergebnis kommen und der Wahlprüfungsausschuss des Landtages sich wohl kaum gegen diese Entscheidung stellen, obwohl der VerfGH selbst ausführt, dass er keine inhaltliche Überprüfung der Entscheidung des Landeswahlausschusses vorgenommen hat. So wird dann wohl aus der summarischen Prüfung im Verfahren der einstweiligen Anordnung eine unverrückbare Rechtslage.
Anders wird sich dies bei der Überprüfung der Nichtzulassung der Listenplätze 31 – 61 verhalten. Diese Zurückweisung hat der VerfGH nicht als von vornherein für so offensichtlich rechtswidrig erachtet, dass dies im Wege der einstweiligen Anordnung zu regeln wäre (was nicht heißt, dass der Verfassungsgerichtshof diese als zulässig erachtet). Zusammengefasst heißt das: Der VerfGH erachtet den Beschluss einer neuen Wahlordnung in einer unterbrochenen Aufstellungsversammlung definitiv nicht als Bruchpunkt in der Kontinuität derselben, schließt aber nicht von vornherein aus, dass dann die darauf gestützte konkrete Umstellung des Wahlverfahrens ein Fehler sein könnte.
Für noch diskussionswürdiger erachte ich aber die Begründung der ausnahmsweisen Zulässigkeit aufgrund des voraussichtlichen Wahlfehlers von außerordentlichem Gewicht. Hier darf man auf die weitere konkrete Begründung des Gerichtes gespannt sein. Denkbar sind zwei Begründungslinien, wann dieser Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht eintritt.
Entweder wird die Begründung darauf gestützt, dass aufgrund der erwartbaren Wahlergebnisse der AfD Mandate mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren gingen, also die Entscheidung absehbar in die Mandatsverteilung eingreift. Würde man dieser Begründungslinie folgen, hätte das Verfassungsgericht gestern faktisch ein „too big to fail“ für die Zulässigkeit des Rechtschutzes vor der Wahl konstruiert. Demnach würde sich die Schwere des Eingriffes, der die ausnahmsweise Zulässigkeit begründet, an der Folgenabschätzung festmachen, also ob betroffenen Listenplätze erfolgreich sein könnten. Diese Begründungslinie würde aber eine Vielzahl von Folgeproblemen aufwerfen. Zunächst müsste der Verfassungsgerichtshof dafür eine Prognoseentscheidung treffen. Genau diese erweist sich aber bei Wahlen regelmäßig als schwierig. Im Umkehrschluss würden Parteien, die absehbar keinerlei Mandate erringen auch keine Chance auf die Konstruktion des besonderen Ausnahmefalls haben und somit vom Rechtsschutz im Vorfeld der Wahl ausgeschlossen. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit der Parteien, die ebenfalls verfassungsmäßig garantiert ist, durchaus mehr als fragwürdig. Zudem wäre ebenfalls fragwürdig, wann noch derartige besondere Ausnahmefälle entstünden. Demnach wäre denkbar, dies auch für nicht zugelassene Direktkandidaten zu erwägen, da nicht nur der Gewinn eines einzelnen Wahlkreises mandatsrelevant ist, sondern im Falle des Falles auch über die Grundmandatsklausel eine nicht unerhebliche Wirkung auf die Mandatsverteilung unterstellbar ist. Es darf daher angenommen werden, dass der VerfGH sich bei den kommenden Wahlen mit einer weiteren Ausdifferenzierung der Fälle, die einen derartigen Ausnahmecharakter haben könnten, mühen wird.
Oder die Begründungslinie bezieht sich auf Schwere des Eingriffs in die Landesliste durch die Entscheidung des Landeswahlausschusses. In diesem Fall wäre aber Tür und Tor für die entgrenzte Ausweitung des Ausnahmefalls gegeben. Denn dann könnte jede Partei, deren Landesliste gar nicht oder im erheblichen Maße unvollständig zugelassen wurde dann den Rechtsschutz im Vorfeld verlangen, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Rechtswidrigkeit der Entscheidung spräche. Mit dieser Linie wäre dann die Sperrwirkung des Wahlprüfungsverfahrens endgültig beerdigt.
Man darf also auf die schriftliche Begründung des VerfGH sehr gespannt sein. Alles in allem wirkt die Entscheidung wie der Versuch einer salomonischen Lösung eines rechtlich eigentlich unzugänglichen Problems, die viele neue Fragen aufwirft.
Zu den Weiterungen der Entscheidungen
Für den 16. August hat der Verfassungsgerichtshof die Verkündung die Entscheidung in der Hauptsache angesetzt. Da wird vor allem die Begründung veröffentlicht, an der Entscheidung in Sache wird sich wohl nichts ändern.
Da der VerfGH für die Nichtzulassung der Plätz 31 – 61 keinen so gewichtigen Rechtsfehler gesehen hat, dass dies zum Erlass einer einstweiligen Anordnung ausreicht, wird dies mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit Gegenstand des Wahlprüfungsverfahrens werden. Ebenso ist davon auszugehen, dass es auch gegen die Zulassung der Plätze 19 – 30 eine Wahlprüfungsbeschwerde geben könnte. Bei dieser ist davon auszugehen, dass sich der Wahlprüfungsausschuss des Landtages nicht gegen die Entscheidung des VerfGH stellen wird und entsprechend diese Entscheidung nicht beanstanden wird. Bei den Plätzen 31 – 61 wird sich der Ausschuss damit beschäftigen müssen, ob ein Wechsel des Wahlverfahrens innerhalb einer unterbrochenen Versammlung tatsächlich ein schwerwiegenden Eingriff in die Chancengleichheit des Kandidat*innen darstellt oder nicht.
Gegen die Entscheidungen des Wahlprüfungsausschusses wird es dann die Möglichkeit der Beschwerde zum Verfassungsgerichtshof geben. Dies wird dann spannend, wenn sich die Beschwerde auf die Zulassung der Plätze 19 – 30 bezieht, denn dann bekommen dies dieselben Richter auf den Tisch, die nun die Entscheidung gefällt haben.
Und nicht zuletzt werden wir wahrscheinlich eine umfassende Debatte über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wahlzulassung und Wahlprüfung erleben. Hier zitiere ich mich mal selbst: „Wir sollten überlegen, ob wir uns von einigen Eigenheiten des deutschen Wahlzulassungs- und Wahlprüfungsrechtes nicht mal verabschieden sollten.“