Eine gute Portion Glück in schwierigen Zeiten

Ein sächsischer Blick auf die Bundestagswahl und GRÜNE Wahlergebnisse

Dr. Paula Louise Piechotta und Valentin Lippmann

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Die Bundestagswahl 2017 ist vorbei, und ganz Deutschland schaut auf Sachsen. Es werden holzschnittartige Portraits über den „ostdeutschen Mann“ geschrieben, Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich erlangt bundesweite Bekanntheit und grüne Kolleg*innen aus glücklicheren Bundesländern fragen, ob man Sachsen nicht einfach aufgeben müsse. Für uns GRÜNE in Sachsen war es nach einem erleichternden Einstieg um 18 Uhr ein Abend, der den uns eigenen pessimistischen Realismus erneut bestätigt hat: Wir bleiben als Bundesland vorerst die politische Avantgarde des Negativen. Die spezielle sächsische Melange aus anhaltender sächsischer Sparwut, einem feudalen Staatsverständnis der regierenden CDU und der bundesdeutschen Randlage hat erneut das Vertrauen in demokratische Strukturen erodiert. Wir GRÜNEN konnten dabei unsere Position in den Städten Dresden und Leipzig im Wesentlichen verteidigen, wahrscheinlich auch Dank des Zuzugs in diese urbanen Räume. Wir sehen aber, dass wir weiterhin nach einem Zugang zu den mittleren und kleinen Städten des Landes und auch zu seinen Dörfern suchen müssen, erst Recht in Zeiten überall steigender Wahlbeteiligung.

 

Inhaltsübersicht
I. Ausgangslage seit Beginn des Jahres
II. Die Wahlergebnisse in Sachsen
III. Kurzer Blick auf die Wahlergebnisse Bund
IV. Wichtige Erkenntnisse für die Bundesebene
V. Zentrale Erkenntnisse für Sachsen (über den Bund hinaus)
VI. Strategische Ansätze für ein anderes Sachsen: 2019 und darüber hinaus

I. Ausgangslage seit Beginn des Jahres

Die CDU/CSU war aus der Bundestagswahl 2013 – wider Erwarten – fast mit einer absoluten Mehrheit hervorgegangen. Lange Zeit war die Union in Umfragen in den hohen dreißiger-Werten stabil. Zuletzt gelang es ihr, der SPD zwei wichtige Landesregierungen (NRW und Schleswig-Holstein) abzunehmen. Trotz leicht und kontinuierlich sinkender Umfragewerte war daher ein kompletter Einbruch der Union bei der Bundestagswahl nicht zu erwarten. Landesumfragen zur Bundestagswahl in Bayern und in Sachsen hatten wenige Monate vor der Wahl noch sehr stabile Werte ergeben. Die Kampagne der CDU, die sich voll und ganz auf Merkel und die Maxime der Stabilität in unsicheren Zeiten kaprizierte, war somit trotz der bekannt gesunkenen Zustimmungswerte der Figur Merkel eine verständliche. Diese Kampagne fand aber – ähnlich wie die Schön-Wetter-Kampagne der GRÜNEN bei der Bundestagswahl 2013 – ihre Grenze ab dem Moment, in dem eine zunehmende Polarisierung gegen die CDU über die Partei hereinbrach und es klarer Positionierung statt eines themenfreien Kanzlerinnenbonuses bedurft hätte.

Die SPD hatte bereits nach ihrer kurzen, die gesamte politische Landschaft überraschenden, Schulz-Euphorie am Anfang des Jahres durch die schlechten Landtagswahlergebnisse erkennen müssen, dass der Griff nach der Kanzlerschaft auch mit Martin Schulz zumindest fraglich sei. Mit zunehmender Nähe zur Bundestagswahl wurde immer stärker klar, dass der initial von der Bevölkerung gewährte Vertrauensvorschuss am Martin Schulz der puren Hoffnung geschuldet war, eine wirkliche Alternative zu Angela Merkel zu erhalten. Eine Hoffnung, der Martin Schulz aufgrund einer aktuell noch nicht aufgearbeiteten Mischung aus Kampagnenversagen der SPD und Begrenztheit der eigenen rhetorischen und strategischen Mittel nicht gerecht werden konnte. Kampagnenziel war es schlussendlich, ein möglichst gutes SPD-Ergebnis zu erhalten, um mit einer stärkeren SPD die Große Koalition fortzuführen. Damit hätte man den Mitgliedern signalisieren können, dass die SPD auch in einem Bündnis mit der Union mit Zugewinnen vom Feld gehen kann, sodass eine Fortsetzung der Großen Koalition nicht automatisch den Verzicht auf die Kanzler*innenschaft 2021 bedeutet hätte.

Die LINKE hatte spätestens nach dem kontinuierlichen Abflauen des Schulz-Hypes einen Zuwachs in den Umfragen zu verzeichnen. Das gelang ihr trotz einer zutiefst widersprüchlichen Wahlkampfführung. Neben der offiziellen Positionierung für die weltoffene Gesellschaft war insbesondere von Sahra Wagenknecht eine deutliche Verschärfung des Tons in der Flüchtlingspolitik im Wahlkampf spürbar. Ob und in welchem Ausmaß diese Beliebigkeit der Linkspartei geschadet hat, ist aktuell nicht klar. Der wichtigste Punkt bleibt jedoch: Die Partei kann ihre Verluste in den ostdeutschen Stammländern insbesondere im Nordwesten der Bundesrepublik ausgleichen. Die Fusion aus PDS und WASG scheint endgültig von Erfolgt gekrönt zu sein und die innerparteilichen Gewichte zwischen ostdeutschen Realos und westdeutschen Fundis dürften sich weiter verschieben – absehbar zu Ungunsten der Regierungsfähigkeit der Partei und eines möglichen rot-grün-roten Bündnisses auf Bundesebene.

Der FDP war der Wiedereinzug in den Bundestag seit Anfang des Jahres mit Blick auf die Umfragen und die Wahlerfolge bei den Landtagswahlen kaum noch zu nehmen. Mit einer Ausrichtung des Wahlkampfes alleine auf die Projektionsfigur des alle Inhalte und Parteikolleg*innen überstrahlenden Spitzenkandidaten und ähnlich wie bei Wagenknecht deutlichen nationalliberalen Tönen, wurden zwar entscheidende Kernbotschaften des Liberalismus verraten: So war insbesondere Lindners Äußerung dahingehend, dass Flüchtlinge alle das Land wieder verlassen müssten, ein Angriff auf den liberalen Urmythos, dass jeder durch eigene Leistung seinen Erfolg steuern kann. Allerdings tat das den Zustimmungswerten keinen Abbruch, sondern führte eher noch zu einem Auskragen bei der Anschlussfähigkeit für verschiedene Wählerschichten. Es bleibt dabei tiefer auszuwerten, wie viele der aktuellen FDP-Wähler*innen einfach zu der Partei zurückgekehrt sind, die sie bereits 2009 mit knapp 14 % in den Bundestag wählten.

Die Umfragewerte der AfD waren zwischenzeitlich nach den deutlichen Hochphasen in den Jahren 2015 und 2016 wieder in Richtung der 5%-Hürde gerutscht. Für einen Moment war sogar nicht mehr zwingend von einem Einzug der AfD in den Bundestag auszugehen. Dadurch, dass das Flüchtlingsthema unabhängig der auf niedrigem Niveau verharrenden Geflüchtetenzahlen seit dem Sommer wieder eine steigende mediale Bedeutung erlangt hatte, erwies sich dies allerdings nur als eine Momentaufnahme.

Die GRÜNEN befanden sich seit Anfang des Jahres 2017 in einem Abwärtsstrudel. Noch vor einem Jahr wäre ein Wahlergebnis von 8,9 % als mittleres Desaster in die Parteigeschichte – in Anbetracht zwischen 2013 und 2016 konstanter zweistelliger Umfragewerte von ca. 14 % – eingegangen. Mit dem kurzen Höhenflug der SPD sackten die Umfragewerte der GRÜNEN deutlich unter die – als Wahlziel ausgegebene – Zweistelligkeit ab. Die Partei brauchte zu lang, trotz eines guten Themenmomentums mit Diesel- und Fibronil-Eierskandal, um eine partiell wirksame Gegenstrategie zu entwickeln. Im Wahlkampf wurde der Spin „Kampf um Platz drei“ als die wesentliche Entscheidung für die Zukunft des Landes gesetzt. Mit Erfolg, wie sich wenige Wochen vor der Wahl zeigte, als führende Medien diese Botschaft übernahmen. Damit dürfte das seit Jahren der erste erfolgreiche Spin sein, den die GRÜNEN aus ihrer Bundesgeschäftsstelle heraus platzieren konnten. Dennoch war noch wenige Tage vor der Wahl nicht zu erwarten, dass trotz einer zugespitzten Schlussmobilisierung, das schlechte Wahlergebnis von 2013 überhaupt übertroffen werden könnte. Insgesamt sind 8,9% kein wirklicher Erfolg, immerhin wurde das Ziel der Zweistelligkeit ebenso verfehlt, wie der Wunsch drittstärkste Kraft im Bundestag zu werden. Allerdings ist das Ergebnis unter den gegebenen Ausgangsbedingungen mehr als respektabel. Es fußt aber auch auf einer nicht unerheblichen Portion Glück und der Schwäche wichtiger Gegner.

Wir müssen in der weiteren Betrachtung des GRÜNEN Wahlergebnisses auch analysieren, warum wir die mutmaßlichen Verluste an die SPD im Zuge des Schulz-Hypes am Jahresanfang nicht vollständig zurückgewinnen konnten, obwohl die SPD diese Prozente sehr schnell wieder abgab.

 

II. Die Wahlergebnisse in Sachsen

Bis auf AfD und FDP haben alle im Bundestag vertretenen Parteien im Freistaat Sachsen sowohl prozentual als auch in absoluten Stimmen verloren. Das trifft auch für die LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu, die im Bund indes leicht zulegen konnten.

Das Gesamtergebnis der CDU in Sachsen ist aus ihrer Sicht eine Katastrophe. Noch vor Monaten wäre unvorstellbar gewesen, dass eine andere Partei als die CDU die meisten Stimmen bei einer Wahl in einer ihrer Bastionen auf sich vereinen könnte. Die CDU verliert in allen Regionen Sachsens und hat teilweise Mühe selbst in den Großstädten die Führung zu behalten. Sie verliert vier Wahlkreise wegen der AfD, davon drei unmittelbar wegen besser abschneidender AfD-Kandidaten sowie zusätzlich den Wahlkreis im Leipziger Süden wegen hinreichender Verluste an die AfD, die schlussendlich dazu führen, dass die LINKE in Leipzig II vor dem CDU-Bewerber liegt. Dass selbst im Wahlkreis Görlitz der sächsische CDU-Generalsekretär sein Mandat verliert, obwohl dieser den massiven Rechtkurs der sächsischen Union mit vorangetrieben hat, spricht in Bezug auf den Erfolg dieser CDU-Wahlkampfstrategie Bände. Die Streuung der Verluste der Union in Sachsen ist, auch im Vergleich von Städten und ländlichem Raum, nicht sonderlich groß. Dies bedeutet, dass es sowohl in den Großstädten als auch im ländlichen Raum, sowohl im Osten als auch im Westen Sachsens zu starken Einbrüchen des CDU-Ergebnisses gekommen ist – es gibt seit dem 24. September keine „uneinnehmbaren“ CDU-Bastionen in Sachsen mehr. Mit einem Verlust von – 15,8 % fährt sie die größten Einbußen aller CDU-Landesverbände ein und ist der einzige CDU-Landesverband, der Direktmandate an die AfD verliert.

Die LINKE gewinnt nur in begrenzten Regionen innerhalb der Großstädte dazu. Im großen Rest des Bundeslandes und über alle Wahlkreise hinweg verliert die LINKE sehr deutlich. Das Landesergebnis fällt um 3,9 % auf 16,9 % und damit deutlich unter die für die sächsische LINKE – auch in Hinblick auf anstehende Landtagswahlen – wichtige 20 %-Marke. Insgesamt verliert die LINKE ähnlich viele Absolutstimmen wie die SPD. Dort wo die LINKE in ihren klassischen Hochburgen verliert, gewinnt indes die AfD deutlich hinzu, gegebenenfalls bedingt durch ehemalige LINKEN-Wähler*innen.

Die SPD holt mit nur noch 10,5 % ein für Bundestagswahlen eklatant schlechtes Landesergebnis (-4,1 %). Vom Gewinn von Direktmandaten in Sachsen ist die SPD weiter entfernt als jemals zuvor. Im Dresdner Teil des Wahlkreises 160 liegt sie erstmals bei einer Bundestagswahl beim Zweitstimmenanteil hinter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Da die SPD bei Landtagswahlen in der Vergangenheit schlechter als bei Bundestagswahlen abschnitt, sind Konflikte um den weiteren Kurs und auch das Agieren in der Regierungskoalition in der sächsischen SPD absehbar.

Die FDP in Sachsen ist über die Gemeinden hinweg sehr stabil und streut in Bezug auf das Zweitstimmenergebnis nur gering. Auffällig ist, dass die FDP wie schon 2009 auch in den sozial schlechter gestellten Regionen und Stadtteilen gute Ergebnisse erreichen konnte. Nach der krachenden Wahlniederlage der FDP bei der Landtagswahl 2014 dürfte das jetzige Wahlergebnis ein Indiz dafür sein, dass die FDP wieder in den Sächsischen Landtag einziehen kann, sofern sich weder Bundes- noch Landespartei zu unklug anstellen.

Die NPD ist auch in Sachsen mit einem Landesergebnis von 1,1% in der politischen Bedeutungslosigkeit angekommen und ihre Wählerschichten sind in der AfD aufgegangen.

Der Blick auf Sachsen muss durch zwei weitere Beobachtungen ergänzt werden: Die summierten Stimmanteile rechter und konservativer Parteien sind in Sachsen noch einmal gestiegen: Von 55,8 % in 2013 auf 63,2 %, eine linke Mehrheit rückt in Sachsen in immer weitere Ferne. Zusätzlich sind auch Dresden und Leipzig – anders als bis zum Schluss erwartet – keine Bastionen gegen den Rechtsruck mehr. In Dresden retten sich die beiden CDU-Direktkandidaten nur knapp vor dem Verlust ihrer Mandate an die AfD. Ähnliche Bilder zeigen sich hier bei der Zweitstimmenverteilung. Auch in Leipzig ist die AfD stark. Dass die AfD das beste Zweitstimmenergebnis im Bundesland erreicht, liegt daher an großen Zustimmungswerten in allen Regionen.

Das Grüne Wahlergebnis

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verlieren in Sachsen 0,3 % gegenüber 2013. Die Zahl der Absolutstimmen wurde im Vergleich zur vorangegangen Wahl nahezu gehalten. Diese geringen Verluste ziehen sich in ähnlicher Höhe jedoch nahezu über das komplette Gebiet des Freistaates. Beim Blick auf die Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern zeigt sich: Lediglich im Wahlkreis Leipzig I und in der Stadt Markkleeberg ist es den GRÜNEN gelungen das prozentuale Ergebnis zu steigern. Im Wahlkreis Leipzig I ist zudem ein erheblicher Zugewinn an Absolutstimmen zu verzeichnen gewesen.

In den Wahlkreisen Leipzig II, Dresden I und Dresden II, sowie den Gemeinden Meißen, Radebeul, Glauchau und Delitzsch ist es zumindest gelungen, die Zahl der Zweitstimmen zu erhöhen. Durch die gestiegene Wahlbeteiligung sinkt jedoch das prozentuale Ergebnis von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In Leipzig und Dresden ist zudem auch die Zahl der Wahlberechtigten im Vergleich zur Wahl 2013 weiter gewachsen.

Signifikante prozentuale Verluste zeigen sich vor allem in für das GRÜNE Gesamtergebnis wichtigen Städten: So sind die prozentualen Verluste an Zweitstimmen in Chemnitz (-0,6 %), Plauen (-0,6 %) und Freiberg (-1,0 %) sinnbildlich dafür, dass die geringen Verluste der GRÜNEN in Sachsen vor allem durch schwächelnde Mittel- und Großstädte entstehen.

Bei näherer Betrachtung der Wahlergebnisse in Dresden und Leipzig wird zudem deutlich, dass die GRÜNEN offenbar dort in ihren Hochburgen vor allem Verluste an die Linke zu verzeichnen haben, ohne dass dies bis auf weiteres als unmittelbarer Kausalzusammenhang bewiesen werden kann. Diese Verluste und die Schwäche in Chemnitz reduzieren das Zweitstimmenergebnis im Vergleich zum Jahr 2013 nicht unerheblich.

Im Ost-Vergleich sind die Ergebnisse der sächsischen GRÜNEN zwar mit Blick auf das leicht bessere Bundesergebnis enttäuschend, allerdings auch keinesfalls als Katastrophe zu bewerten. Die Einbrüche in Thüringen sind weit deutlicher, was vermutlich auf die grüne Regierungsbeteiligung und eine sehr unpopuläre Gebietsreform zurückzuführen ist. Brandenburg kann seine Spitzenposition im Osten aufgrund des Berliner Umlandes und Potsdam halten. Sachsen-Anhalt verliert auf niedrigem Niveau noch einmal gegenüber der Bundestagswahl 2013. In Sachsen wird jedoch auch deutlich, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus der weiter gestiegenen Wahlbeteiligung bei dieser Bundestagswahl offenbar nur unterdurchschnittlich profitieren konnten, wobei die Zuwächse der Wahlbeteiligung keine signifikanten Unterschiede zwischen den urbanen und ländlicheren Wahlkreisen zeigen und auch viele grüne Stadtteilhochburgen in Leipzig und Dresden überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligungen zeigen (so ist beispielsweise die Wahlbeteiligung in der Dresdner Neustadt um über sechs Prozentpunkte auf deutlich über 80% angestiegen).

 

III. Kurzer Blick auf die Wahlergebnisse Bund

Die CDU/CSU hat eine ihrer schwersten Niederlagen in der Geschichte einstecken müssen – nur 1949 schnitt sie mit 31,0 % knapp schlechter ab. Die Wahlergebnisse streuen stark über die Bundesländer hinweg. Während die CDU in Schleswig-Holstein „nur“ 5,2 Prozentpunkte verliert und in NRW „nur“ 7,2 % der Zweitstimmen einbüßt, liegen die Verluste in Sachsen mit -15,7 % und in Bayern mit -10,5 % deutlich über dem Bundesschnitt. In vielen Wahlkreisen in Ostdeutschland konnten die Kandidat*innen der CDU ihre Wahlkreise – wenn überhaupt – nur sehr knapp vor der AfD verteidigen. In der Wählerbefragung wird deutlich, dass das Vertrauen in die Bundeskanzlerin in Teilen der Bevölkerung nachhaltig beschädigt ist. Die Frage, ob Angela Merkel ein Garant dafür sei, dass es Deutschland gut gehe, bejahten acht Prozent weniger als 2013.

Das Wahlergebnis der SPD ist das absolute Fiasko und das schlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik. Die psychologisch wichtige Scheidegrenze von 20 %, die die SPD von einer ehemaligen Volkspartei endgültig zu einem schlichten Mehrheitsbeschaffer im Parteiensystem degradiert hätte, wurde nur knapp verfehlt. Die größten Verluste fährt die SPD im Stammland Nordrhein-Westfalen (-5,9 %) und Schleswig-Holstein (-8,2 %) ein. Ähnlich stellt sich dies in Niedersachsen dar, wo demnächst die vorgezogene Landtagswahl ansteht (-5,7 %). Die SPD büßt mit Blick auf die Wählerbefragung vor allem bei der Zuschreibung als Partei der sozialen Gerechtigkeit ein. Hier verliert sie gegenüber 2013 sieben Prozentpunkte. Das ist in Anbetracht dessen, dass zum einen Peer Steinbrück bei der vergangenen Bundestagswahl als Person kaum eine entsprechende Zuschreibung zuließ und zum anderen die SPD dies in diesem Wahlkampfjahr zu einem Schwerpunktthema gemacht hat, bemerkenswert.

Das Wahlergebnis der LINKEN fällt zwar insgesamt leicht positiv aus, bleibt aber unter den eigenen gesteckten Erwartungen. Anders als noch am Ende der letzten Großen Koalition im Jahr 2009 kann sie von einem weiteren Verlust an Wählerstimmen der SPD nicht im gleichen Maße wie vor acht Jahren profitieren. Es zeigt sich bei der regionalen Betrachtung eine deutliche Verschiebung der Wahlergebnisse der LINKEN. Während die klassischen Hochburgen der LINKEN, vor allem im Osten, teilweise erheblichste Verluste zu verzeichnen haben (beispielhaft für Sachsen: Hoyerswerda – 5,8%; Borna -8,7%; Riesa -7,5%), gelingt es der LINKEN zunehmend im Westen der Republik Fuß zu fassen. Insgesamt verlagert sich das Wählerpotenzial der LINKEN stark in die links-urbanen Räume. Das Erringen des Direktmandates im Leipziger Süden als einziges Direktmandat außerhalb Berlins liegt indes weniger an der Stärke der dortigen LINKEN, sondern wie oben bereits geschildert vor allem an der Schwächung des CDU-Kandidaten durch die AfD.

Der FDP gelingt es, nach der krachenden Niederlage des Jahres 2013, wieder an das gute Wahlergebnis von 2009 anzuknüpfen und zweistellig zu werden. Die regionale Verteilung der Wahlergebnisse fällt für eine „kleine“ Partei relativ homogen aus, die FDP ist sowohl in den Städten als auch im ländlichen Raum erfolgreich. Dieser Wahlerfolg ist untrennbar mit der Person Christian Lindner verbunden. Insgesamt 59 % der FDP-Anhänger glauben nach eigenen Angaben, dass ohne Christian Linder die FDP keine Chance gehabt hätte, 42 % von ihnen hätten ohne den aktuellen Parteivorsitzenden die FDP nicht gewählt.

Das Wahlergebnis der AfD ist höher als von vielen erwartet ausgefallen. Die Hochburg liegt klar im Osten der Bundesrepublik. Hier hat die AfD in allen Bundesländern überdurchschnittliche Wahlergebnisse eingefahren und in Sachsen sogar drei Direktmandate gewonnen – dies war in der Deutlichkeit nicht zwingend zu erwarten. Sie ist aber kein rein ostdeutsches Phänomen. Auch im Westen der Bundesrepublik erreicht die AfD nur in vier Bundesländern Zweitstimmenergebnisse von kleiner 10 %, darunter die Stadtstaaten Bremen und Hamburg. Gerade in vielen kleineren Städten liegen auch in Westdeutschland die AfD-Stimmen auf dem Ostniveau. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die AfD nunmehr der LINKEN sowohl den Nimbus der Partei der Unzufriedenen als auch den der Partei der Ostdeutschen abgenommen hat.

 

Ein tieferer Blick auf das Wahlergebnis der GRÜNEN

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist in der Schlussmobilisierung ein zwischenzeitlich kaum noch zu hoffender Achtungserfolg gelungen. Das Wahlergebnis konnte moderat im Vergleich zur letzten Bundestagswahl auf 8,9 % gesteigert werden. Das Wahlergebnis zeigt aber einige Spezifika, mit denen die Partei in zukünftigen Wahlkämpfen umgehen muss:

Die Ergebnisse von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN streuen unter den Bundesländern vergleichsweise stark. Während der Südwesten sowie Schleswig-Holstein und Hamburg teils deutliche prozentuale Zugewinne in allen Wahlkreisen und Bayern ein deutlich gesteigertes Gesamtergebnis einfahren konnten, ging dies insbesondere mit Verlusten in NRW und den ostdeutschen Bundesländern einher, die teilweise in nahezu allen Wahlkreisen verloren haben. Der Großteil der das Gesamtergebnis stützenden Stimmen hat sich damit nach Süddeutschland verschoben.

In den eher links-urban geprägten Räumen sind teilweise spürbare Verluste zu verzeichnen, die mutmaßlich mit einer Steigerung der dortigen Stimmen der LINKEN einhergehen. Mit Blick auch die Wählerwanderungsstatistiken liegt der Schluss nahe, dass wir in diesem für uns wichtigen Milieu an die im Wahlkampf widersprüchlich agierende Linkspartei verloren haben. Dieser Trend zeigt sich deutlich in Ostdeutschland, wo die LINKE teilweise Zugewinne in den GRÜNEN Hochburgen der Großstädte einfährt, und das, obwohl die Linkspartei in ihren ehemaligen Hochburgen wie Dresden Prohlis oder Leipzig Grünau massiv an die Rechtspopulist*innen verloren hat.

Aus den Nachwahlbefragungen lässt sich mit 29 % ein hoher Wert von Wählerinnen und Wählern entnehmen, der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor allem aus taktischen und weniger aus inhaltlichen Überzeugungen gewählt haben. Mit 40 % ähnlich hoch ist der Anteil der Spätentscheider*innen, also jener, die sich innerhalb der letzten Woche für die GRÜNEN entschieden haben. Dies ist zwar Ausdruck einer gelungenen Schlussmobilisierung, zeigt uns aber, dass das aktuelle Kernwählerpotenzial deutlich unter dem am Ende erreichten Ergebnis liegt.

Der Blick auf die Wählerwanderungen legt den Schluss nahe, dass wir das aktuelle Ergebnis primär der Schlussmobilisierung verdanken und uns auf die Zugewinne durch SPD-Wechselwähler*innen nicht verlassen können.

Beim Blick auf das Wahlverhalten nach Alter ist der Zugewinn bei den 18-24-Jährigen als sehr positiv herauszustellen. Die Angst war mit Blick auf die vergangenen Landtagswahlen und Verlusten in dieser wichtigen Zielgruppe groß, gerade in dieser Gruppe tendenziell Einbußen hinnehmen zu müssen.

In den Nachwahlbefragungen offenbart sich aber auch, dass auch vier Jahre nach 2013 die Zuschreibung der GRÜNEN als eine Partei, die den Menschen vorschreiben will, wie sie leben soll, kaum abgenommen hat. Diese These bejahen immer noch 47 % der Bevölkerung und damit nur drei Prozentpunkte weniger als im Jahr 2013. Diese Zuschreibung dürfte zeigen, dass der von führenden GRÜNEN angestoßene Freiheitsdiskurs 2013/2014 ohne eindeutig nach außen wahrnehmbare Wirkung geblieben ist, und dass auch die Spitzenkandidat*innen über ihre persönliche Wirkung dieses Narrativ noch nicht überwinden konnten.

 

IV. Wichtige Erkenntnisse für die Bundesebene

Die Wahlergebnisse in Bayern für die CSU und für die sächsische Union, strafen jene Lügen, die glauben, ein offensiver Rechtskurs der CDU/CSU könne – im Sinne der alten Theorie von Strauß – die Verluste von Wählerinnen und Wählern an die AfD verhindern. Die CDU hat vielfach dort besser abgeschnitten und somit weniger verloren, wo sie eben keinen expliziten scharfen Rechtskurs eingeschlagen hat und in einen Überbietungswettbewerb mit der AfD eingestiegen ist. Die These von der „Wahl des Originals“ scheint sich somit einmal mehr bestätigt zu haben. Sollten einzelne Landesverbände der Union nun ihrer aufgebrachten Basis nachgeben und auf einen rechtspopulistischen Kurs setzen, um ihre verlorenen Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren Verlusten der CDU/CSU führen (insbesondere auch, da die CDU in Summe mehr Stimmen an die FDP verloren hat).

Die SPD ist derzeit nicht mehr in der Lage qualitativ-inhaltlich eine Kanzlerschaft gegenüber der Bevölkerung zu begründen. Der Schulz-Effekt war wenig mehr als Ausdruck einer kurzzeitigen Hoffnung von Teilen der Bevölkerung, einen Politikwechsel wählen zu können. Die Sozialdemokraten kamen aber bereits im Frühjahr 2017 schnell in die Lieferschwierigkeiten konkreter politischer Ziele. Der für SPD-Verhältnisse späte Wechsel des Führungspersonals im Januar 2017 ging mit einer vollkommenen Planlosigkeit hinsichtlich Schwerpunkten, Profil und Botschaften des Kandidaten Schulz einher – nicht ohne Grund war der obligatorische Kampagnenrettungsanker für aussichtslose SPD-Wahlkämpfe in Person von Frank Stauss nicht bereit diesen Wahlkampf zu begleiten. Wie sehr die SPD inhaltlich geschwommen ist, hat sich eindrucksvoll in den Wochen vor dem Kanzlerduell und in diesem selbst gezeigt: Der Angriff von Schulz auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin war ein Spin, der sie ausgerechnet versuchte an jener Stelle zu treffen, bei der sie aus Sicht vieler eher linker Wählerinnen und Wähler das erste Mal Haltung gezeigt hat. Dieser Versuch, die CDU rechts zu überholen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Damit einher ging jedoch ein doppelter Schaden, der nicht nur linke SPD-Wähler*innen zweifeln ließ, sondern auch das Flüchtlingsthema zu Gunsten der AfD wieder verstärkt auf die Tagesordnung setzte. Auch der behauptete Gang der SPD in die Opposition wird die Sozialdemokratie nicht vor einer heftigen Auseinandersetzung über den Kurs und die Frage, wofür es in Deutschland eine starke SPD braucht, bewahren. Sollte diese dabei trotz Oppositionsrolle eine weitere inhaltliche Verschiebung nach rechts vornehmen, wird auch die nächste Bundestagswahl zu einer unerfreulichen Begegnung mit dem Wahlergebnis werden.

Die Verschiebung des Wählergleichgewichtes bei der LINKEN in Richtung des Westens der Bundesrepublik, einhergehend mit dem Verlust in den klassischen Linken-Hochburgen im Osten kann zu einem mittelfristigen Problem für die LINKE werden. Das gleichzeitige Ansprechen der klassischen LINKEN-Milieus und neuer Wählergruppen wird zu einem massiven Spagat werden. Dies dürfte sich mit dem ansehbaren Richtungskonflikt zwischen der Parteiführung und Sahra Wagenknecht an der Fraktionsspitze verschärfen. Gleichzeitig zeigt die zunehmende Gleichgewichtsverschiebung, dass der seit langem prognostizierte demographischen Kollaps der Ost-Wählerschaft durch das Erreichen bzw. den Ausbau neuer Milieus zumindest vorerst aufgefangen werden kann.

Über die AfD und die Auswirkungen des Wahlergebnisses müsste an dieser Stelle ein eigener Text geschrieben werden. Mit Blick auf die Aktivitäten der AfD in den Landtagen ist aber eindringlich vor dem gedanklichen Kurzschluss zu warnen, dass diese sich durch die Unfähigkeit in der Parlamentsarbeit sehr schnell selbst zerlegen könne. Die Chefideologen der AfD folgen einer klaren Ausbeutungs- und Selbstdarstellungsfunktion des Parlamentarismus. Unsere liberal-demokratischen Ansprüche an erfolgreiche Parlamentsarbeit scheitern an diesem – im Kern von einem Parlaments- und Politikverständnisses Carl Schmitts geprägten – Umgang der neuen Rechten mit der ersten Gewalt des Staates.

 

Schlussfolgerungen in Bezug auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zu späte Sichtbarkeit des eigenen Profils

Der Wahlkampf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte zu lange keine wahrnehmbaren zuspitzbaren politischen Ziele. Erst in der Schlussphase wurde bei zentralen Inhalten der Partei deutlich, wofür sie in der nächsten Bundesregierung eigentlich wirklich kämpfen will. Dabei lagen die Themen eigentlich auf der Straße. Weder der Ausstieg von Trump aus dem Klimaschutzabkommen, noch ein großer Lebensmittelskandal oder der Dieselskandal konnten durch die GRÜNEN durchgreifend genutzt werden, um daraus im Wahlkampf wahrnehmbares politisches Kapital zu schlagen. Sicherlich liegt dies auch an der Spezifik der neueren Wahlkämpfe: Durch den Verlust von Agenda-Setting-Funktionen der Leitmedien gegenüber den Filterblasen im Netz werden die Zyklen von Themenkonjunkturen kürzer und die geringe Personalausstattung grüner Wahlkämpfe sowie die vergleichsweise geringe Medienpräsenz grünen Spitzenpersonals verhinderte eine ausreichende Gegenantwort. Dies wurde ergänzt um eine inhaltliche Dispersität, die aufgrund der vielen unterschiedlichen Landesregierungsbeteiligungen zwingend an den Tag trat und teilweise zu einer massiven Verwässerung oder Angreifbarkeit der bundespolitischen Botschaft führte. Drittens wurden viele Programminhalte vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Wahlkampf 2013 sehr vorsichtig auf eine mögliche Zuspitzung abgeklopft. Die Ursache für die späte Entwicklung eines wahrnehmbaren Profils scheint somit einerseits in einer Umkehrreaktion zu 2013 zu liegen, andererseits in dem erst im September einsetzenden Interesse der Öffentlichkeit an den „kleinen Parteien“ und der dadurch nun deutlich besser durchdringenden grünen Botschaften. In Kenntnis dieser Mechanismen brauchen wir für die Zukunft – gerade in einem Berliner Regierungsfall – eine wirksame Strategie, wie wir die von rot-rot-grün bis grün-schwarz in den Bundesländern sehr weit auseinander liegenden Regierungsbeteiligungen und die inzwischen sehr unterschiedlichen Images der einzelnen grünen Landesverbände nutzen und zusammenführen können, ohne dass wir unsere Kampagnenfähigkeit auf Bundesebene schwächen.

 

Erfolg durch Wechselwähler*innen der SPD 

Glaubt man den Wählerwanderungsstatistiken, zumindest in der Tendenz, haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihr leicht verbessertes Wahlergebnis vor allem Wanderungsbewegungen von der SPD zu den GRÜNEN zu verdanken. Zusammen mit dem hohen Anteil der Wähler*innen, die sich erst in den letzten Tagen entschieden haben und dem Umstand, dass 29% der GRÜNEN-Wähler*innen angeben, uns aus taktischen Gründen gewählt zu haben, entsteht ein Bild, dass viele Menschen in letzter Minute von der SPD zu den GRÜNEN wechselten. Es wird eine große Herausforderung, diese Wähler*innen zu halten, wenn die SPD in die Opposition und die GRÜNEN in eine Jamaika-Koalition gehen. Schon bei den weniger erfolgreichen Landtagswahlergebnissen der jüngeren Vergangenheit lag einer der Gründe für den Misserfolg auch darin, dass man unterschätzt hatte, wie schwer es sein würde SPD-Wechselwähler*innen im Regierungsfall zu binden.

 

Die starke Inszenierung im Wahlkampf

Die Amerikanisierung des Wahlkampfes der GRÜNEN wurde mitunter während des Wahlkampfes gerade in der eigenen Partei kritisiert. Dabei haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit ihrer Wahlkampfführung neue Maßstäbe gesetzt, gerade was den online-Wahlkampf angeht, ohne den das Wahlergebnis wahrscheinlich schlechter ausgefallen wäre. Die Erwartungshaltung der Wählerinnen und Wählern nach zunehmender Professionalisierung und Inszenierung von Botschaften und Personen, nicht zuletzt aufgrund der Verwertung in den Sozialen Netzwerken, kann durch eine Partei, die für sich immer wieder reklamiert Teil des gesellschaftlichen Fortschrittes zu sein, nicht ignoriert werden. Eine Herausforderung wird sein, diese neuen Maßstäbe in die Breite der Partei zu tragen, da es sonst in Anbetracht der Ressourcen und Fähigkeiten kleinerer Kreisverbände auch schnell zu einem sichtbaren Bias in der Wahlkampfführung kommen kann, dem man auch mit einer zentralisierten Steuerung nur bedingt begegnen kann.

 

Die Gefahr einer übermäßigen süddeutschen Regionalisierung der grünen Partei

Durch die aktuelle Verschiebung des quantitativen Schwerpunktes der Wählerinnen und Wähler in Richtung des Südens der Republik droht der Partei ein entscheidender Fehlschluss für zukünftige Wahlkämpfe. Eine immer stärkere politische und ansprachemäßige Fokussierung auf diese Region wird wenig nachhaltig wirken. Der sprunghafte Ausbau süddeutscher Wähler*innenpotentiale liefe Gefahr, alle dortigen Zugewinne in links-urbanen Milieus und jüngeren Altersgruppen zu verlieren. Diese bilden aber in den Stadtstaaten und schwächeren Landesverbänden die entscheidenden Säulen der grünen Ergebnisse – urbane Hochburgen, ohne die es beispielsweise keine einzige grüne Landtagsfraktion im Osten gäbe. Wie fragil diese Stimmanteile sind, hat der Verlust der Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern bereits gezeigt. Auch in Teilen NRWs lassen sich bereits Verluste in dortigen Hochburgen und eine erstarkende Linkspartei ablesen. Verluste von Landtagsfraktionen in mehreren Bundesländern könnten Kaskadeneffekte auslösen, die die zwischenzeitlichen Erfolge im Südwesten bei Bundestagswahlen mittelbar konterkarieren und den Anspruch der GRÜNEN als breit aufgestellte bundesdeutsche Kraft auch im Bundesrat untergraben. Außerdem würden GRÜNEN-freie Landtage im Osten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als großer symbolischer Erfolg durch alle politischen Gegner instrumentalisiert werden. Es muss gerade nach dieser Bundestagswahl bei den GRÜNEN eine nachhaltige Entwicklung des grünen Profils geben, die nicht das Jagen nach kurzfristigen regionalen Achtungserfolgen zum Ziel hat, sondern eine gesunde und tragfähige Basis schafft für das Wachstum der gesamten Partei.

 

Fluch und Segen der Briefwahl für die GRÜNEN

In vielen großen Städten in Deutschland gab es eine Rekordbeteiligung bei der Briefwahl. Dies war in der Vergangenheit ein Garant für gute Wahlergebnisse von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, da vor allem wichtige Kernwählerschichten der GRÜNEN eine hohe Briefwahlneigung aufweisen. Mit Blick auf gute Spätmobilisierung des GRÜNEN Wahlkampfes könnte die Briefwahl aber erstmals seit langem wieder einen leichten Negativeffekt ausgelöst haben, weil die Wählerinnen und Wähler evtl. ihre Stimme am Wahltag aufgrund der politischen Zuspitzung anders abgegeben hätten. Durch die verfassungsgerichtliche Freigabe der Briefwahl ist zu erwarten, dass diese auch in zukünftigen Wahlkämpfen eine immer größere Rolle spielen wird. Dies lässt die klassische Wahlkampfchoreographie zunehmend ins Leere laufen. Für zukünftige Wahlkämpfe braucht es hier eine wirksame Strategie um frühzeitige Briefwählerinnen und -wählern fernab einer gelingenden Schlussmobilisierung gewinnen zu können. Hier ist eine Interdependenz mit einem frühzeitig klar erkennbaren Profil gegeben und mit Blick auf diesen Teil der Wahlkampagne der GRÜNEN noch Luft nach oben.

 

V. Zentrale Erkenntnisse für Sachsen (über den Bund hinaus)

Die sächsische CDU steht nach dem Wahldebakel am Scheideweg. Der sichtbare Rechtsruck und die falsche Akzeptanz für antidemokratisches und antipluralistisches Verhalten durch CDU und Sächsische Staatsregierung haben die Positionen der AfD gestützt und sie gestärkt, statt ihr das Wasser abzugraben. Welche Rolle eventuell außerdem die Arroganz der sächsischen CDU im ländlichen Raum gespielt hat, die die Interessen der Menschen teilweise an sich abprallen ließ, muss in den nächsten Monaten aufgearbeitet werden. Insgesamt ist die Strategie der sächsischen CDU mit diesem Wahlergebnis gescheitert, auch wenn der bundespolitische Einfluss nicht negiert werden kann. Sollte kein Umdenken erfolgen, wird die AfD weiterhin davon profitieren. Die aktuellen Diskussionen zeugen von einer strategischen Irrfahrt der CDU im Freistaat. Tillich überdehnt mit seinem neuen Rechtskurs die politische Spreizung, die für eine Partei aushaltbar ist, nimmt Parteiaustritte städtischer CDU-Mitglieder in Kauf und gefährdet die Restfragmente politischer Kultur in Sachsen genauso wie die Existenz der CDU als sächsische Volkspartei. Daran wird auch das erwartbare Verhalten der CDU kurz vor der nächsten Wahl nichts ändern, wenn wieder in alter paternaler Staatsmanier versucht werden wird, mit dem Geldsack die Probleme in unserem Bundesland für die Monate bis zur Wahl vorübergehend zuzudecken. Die angedachte zukünftige politische Ausrichtung der Union erweckt zudem der Anschein, dass die CDU sich ab 2019 auch ein Bündnis mit der AfD vorstellen kann. Dies liegt nahe, da bei einem absehbaren ähnlichen Abschneiden der Parteien im Jahr 2019 wie bei der aktuellen Bundestagswahl selbst Dreierbündnisse nicht mehr ausreichen würden, um die CDU gegen die AfD an der Macht zu erhalten – dazu müssten dann bisher unvorstellbare Konstellationen wie CDU/SPD/FDP/GRÜNE oder die wirkliche große Koalition aus CDU und LINKEN erprobt werden – beides ist für Sachsen nahezu unvorstellbar. Die CDU ist also auf dem besten Wege, Sachsen in die Unregierbarkeit zu führen.

Das Wahlergebnis ist aber auch Ausdruck des gescheiterten paternalen Staatsverständnis der CDU, die die Entpolitisierung der Bürgerinnen und Bürger als Machterhaltungsmechanismus begreift und die Botschaft setzte, dass die Probleme der Menschen nicht primär politisch gelöst werden müssten, sondern höchstens auf einer individuellen Ebene durch staatliche Institutionen als kümmernde Strukturen. Dieses Politikverständnis ist an seine vorläufige Grenze gekommen: Die gesellschaftlichen Veränderungen, die von Angela Merkel vorgegeben wurden, waren auch in Sachsen erklärungsbedürftig, aber darauf war die sächsische CDU nicht vorbereitet. Ein Kandidat der sächsischen CDU musste in den vergangenen 27 Jahren nichts erklären, für nichts stehen und erst recht keine plausible Haltung haben, sondern der Parteiführung treu ergeben seinen Wahlkreis verwalten und unliebsame Befindlichkeiten der Menschen vor Ort unterdrücken. Dies hat sich nun bitter gerächt.

Die sächsische SPD scheint nach der herben Wahlniederlage verstärkt auf die Gefühle vermeintlich vernachlässigter Ostdeutscher setzen zu wollen. Ihr Landesvorsitzender Martin Dulig meinte sogar, diesen ihre verloren Würde zurück gegeben zu müssen. Damit wird der – auch von der LINKEN propagierte und von der CDU bisher geübte – Kümmererhabitus durch eine weitere Partei verinnerlicht und zur lagerübergreifenden politischen Leitlinie Sachsens. Es ist fraglich, ob diese Strategie im aktuellen Konkurrenzfeld aufgehen kann. Allerdings wird damit die Lücke für eine emanzipatorische Partei, die auf Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger setzt immer größer – und könnte von der FDP oder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besetzt werden.

Bei der LINKEN wird es absehbar nach den deutlichen Verlusten in Sachsen bei der Bundestagswahl zu einer Richtungsentscheidung kommen, ob man weiter auf die klassische Kernklientel setzt oder sich stärker am Potential in den Großstädten ausrichtet – wobei letzteres mit einem noch größeren Verlust an Stimmen einhergehen könnte. Diese Entscheidung wird aber keine kühl-rationale sein, sondern eine, die sich am Selbstverständnis der LINKEN als Sachwalterin des Ostens orientieren wird. Absehbar ist eine weiterhin starke Orientierung an der Kernwählerschaft, die ein weiteres Auskragen vorerst verhindern könnte. Daran wird auch der absehbare Wechsel an der Parteispitze der sächsischen LINKEN nichts ändern, da diese Auffassung bei den LINKEN nicht primär eine Generationenfrage zu sein scheint.

Die AfD hat auf der vorherrschenden politischen Stimmung im Freistaat ideal aufdocken können. Der Erfolg ist hausgemacht und vor allem die Folge der Art und Weise, wie die CDU in Sachsen Politik gestaltet und ihrer mangelnden Haltung zu Grundfragen unserer demokratischen Werte. Welche Rolle die Gruppe um Frauke Petry spielen wird, und ob sie aufgrund ihrer guten Verankerung in Sachsen in der Lage sein wird, das rechte Lager weiter zu spalten, ist aktuell noch nicht absehbar.

 

Erkenntnisse für die sächsischen GRÜNEN

Die Achillesferse der GRÜNEN in Sachsen sind weiterhin Verluste in den Groß- und Mittelstädten. Über 71 % der Wählerstimmen der GRÜNEN in Sachsen kommen aus den Städten mit über 20.000 Einwohner*innen. Sofern es hier nur zu marginalen Verlusten bei den Wählerstimmen kommt, hat dies enorme Auswirkungen auf das Gesamtergebnis der Landesebene. Dies kann im schlimmsten Fall über den Verbleib im Landtag entscheiden. An diesem Befund hat sich in den letzten Jahren – trotz massiver politischer und ressourcenmäßiger Fokussierung auf den ländlichen Raum – wenig geändert. Gerade die vermuteten Zugewinne der LINKE in den Stammwählermilieus von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind hier ein Alarmsignal in Bezug auf unseren einzigen Grundpfeiler des Wählerpotentials. Das Problem wird sich bei einer Koalition mit der CDU auf Bundesebene unweigerlich verschärfen, da dies in jenen Hochburgen von den Wählerinnen und Wählern naturgemäß mit starker Skepsis betrachtet wird, auch wenn dies nicht mehr so starke Auswirkungen wie noch vor zehn Jahren haben dürfte.

In Sachsen hat sich ein erheblicher Teil des Wahlkampfes um andere Themen als die Kernthemen der GRÜNEN gedreht. Die Ausrichtung der CDU und die Politik der AfD haben das Agenda-Setting und die Berichterstattung dominiert. In einer Gemengelage, in der es politisch vor allem um Ängste und den Wunsch nach Bewahrung des status quo ging, hat eine Partei, die sich primär der Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft verschrieben hat, das Nachtreffen. Eine solch schwierige Ausgangslage für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war in ähnlicher Form in allen ostdeutschen Bundesländern gegeben. An ihr wird sich aber bis zur Landtagswahl 2019 vermutlich kaum etwas ändern. Dies erfordert von den sächsischen GRÜNEN einmal mehr, auf deutliche Botschaften und eine tragfähige Gesellschaftserzählung zu setzen.

Eine diesbezügliche thematische Fokussierung der sächsischen GRÜNEN im Wahlkampf hat zumindest für eine gute und verhältnismäßig starke mediale Wahrnehmung gesorgt. Vor dem Hintergrund zwischenzeitlicher Umfragen mit einem 3%-Landesergebnis zur Bundestagswahl hat sich diese Strategie als richtig erwiesen und korrespondiert mit der Wahrnehmung der GRÜNEN als einer Partei mit klaren Zielen.

Von einer gestiegenen Wahlbeteiligung konnten die GRÜNEN in Sachsen offenbar kaum profitieren. Dies zeugt von einem hohen Ausmobilisierungsgrad der Wählerschaft in den bisherigen Wahlen. Damit können Zugewinnen faktisch nur durch Wanderungsbewegungen von anderen Parteien und den Zuzug aus dem restlichen Bundesgebiet erreicht werden. In der Annahme, dass ersteres bei der Bundestagswahl zumindest in Bezug auf die SPD gelungen ist, droht hier mit einer Oppositionsrolle der SPD und der LINKEN im Bundestag eine Verschärfung dieser Problemlage. Andererseits stellt die Zersplitterung des rechten Lagers auch in Sachsen eine mögliche Chance dar, zumindest mittelfristig die politische Starre im Bundesland zu lösen.

 

VI. Strategische Ansätze für ein anderes Sachsen: 2019 und darüber hinaus

Die thematische Schwerpunktsetzung der Bundestagswahl muss fortgesetzt und für die Landtagswahl weiter forciert werden, um eine klare Wahrnehmbarkeit zu schaffen – eine weitere Ausprägung des Markenkerns durch die Partei ist notwendiger denn je. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben bei den Wählerinnen und Wählern eine hohe Glaubwürdigkeit und eine Zuschreibung als Themen- und Haltungspartei. Diese Rolle muss in der Außenkommunikation immer wieder deutlich gemacht werden. Es braucht für die Landtagswahl 2019 vor allem ein tragfähiges und hörbares Narrativ für die sächsischen GRÜNEN, welches den Wunsch nach gesellschaftlicher Modernisierung und Zukunftsfähigkeit in sich trägt und dies mit dem Wunsch nach Bewahrung unserer Umwelt und Erhalt unserer grundliegenden demokratischen und zivilisatorischen Werte vereint.

Die Re-Politisierung der Gesellschaft ist massiv, und sie macht vor Sachsen nicht halt. Die noch vor wenigen Jahren beschriebene These vom deutschen Biedermeier des 21. Jahrhunderts, in welchem die Bürgerinnen und Bürger frei von Verantwortung und mit dem Recht auf Veränderungslosigkeit leben sollen, hat sich in den vergangenen zwei Jahren bereits überlebt.

Damit muss sich auch Sachsen neu erfinden. Einerseits müssen wir als sächsische Demokrat*innen lernen, dass wir mehr Entzauberung statt reiner Empörung brauchen, dass die permanente Reproduktion der Botschaften der Rechten ohne die gleichzeitige Kommunikation eigener entgegengesetzter Botschaften die Hetzer*innen medial stärkt. Wir müssen lernen, besser zu kommunizieren und akzeptieren, dass die zunehmende Medialisierung durch das Internet politische Kommunikation und Wahlkampf deutlich voraussetzungsreicher und anstrengender machen. Dem Drang nach Neuem und einer stärkeren Inszenierung können wir uns nicht vollständig entziehen. Dazu gehört neben der Entwicklung von Erzählungen und Botschaften auch eine personalisierte Inszenierungsstrategie, die gut dosiert und als Teil einer Gesamtstrategie geeignet sein kann, Inhalte auch über Personen bekannt zu machen.

Wir müssen aber auch dem – im Wahlergebnis der AfD ausgedrückten – vermeintlichen Repräsentationsdefizit und der behaupteten Unzufriedenheit begegnen. Vereinfachend kann man den Bürgerinnen und Bürgern in Sachsen mit Elementen der starken Staatlichkeit ein Mitgenommenwerden suggerieren, wie es jetzt CDU, SPD und LINKE vorschlagen. Ehrlicher und schwieriger ist es, gemeinsam den Ausbruch aus dem paternal-bräsigen sächsischen Staatsgefüge hin zu einer demokratischen Bürgergesellschaft zu wagen. Für uns GRÜNE als Partei der gesellschaftlichen Modernisierung kann nur dieser zweite Weg die Antwort auf den aktuellen Zustand Sachsens sein.

Als primärem Feindbild der Rechten kommt uns GRÜNEN nicht zuletzt aber auch eine ganz eigene Rolle im Kampf um ein Sachsen der Zukunft zu: Unsere Existenz und unsere gut wahrnehmbare Stimme allein sind wichtige Kristallisationspunkte für das andere, weltoffene Sachsen: Wir stehen wie keine andere Partei diametral dem Gesellschaftsentwurf der Rechten entgegen, in Form unserer Ziele, unserer innerparteilichen Kultur, unseren experimentierfreudigen Wähler*innen-Hochburgen und der enormen Vielfalt unserer Mitglieder. Damit sind wir Anlaufpunkt für die vielen Menschen, die sich dem politischen Herunterwirtschaften Sachsens entgegenstellen wollen, die sich aus diesem Bundesland nicht vertreiben lassen und die niemals akzeptieren werden, dass dieses Land vom Rest der Bundesrepublik abgeschrieben wird.